Taenzer der Nacht
Sommer erlebt hatten. Ich schaute zu dem Burschen neben mir hinüber. Er war jetzt einer von uns – und ich fing an, mich zu fragen, warum er uns so fasziniert hatte. Letz ten Endes war er doch nichts von dem, was wir all die Jahre vermutet hatten: Arzt, Designer, Opfer einer Kno chenkrankheit, Schützling eines Bischofs. Von den ganzen Gesichtern, in die wir uns verliebt hatten, waren einige tatsächlich so etwas gewesen; aber die meisten von ihnen waren mittlerweile auf Farmen im Norden verschwunden, nach Kalifornien oder Hamp ton. Nur wir waren immer noch auf Jagd. In einem Land, in dem man nur das ist, was man macht (einem Land von Arbeitern) oder das Geld, das man besitzt, hatte Malone genauso wie wir aufgehört, überhaupt irgendeine Identität zu haben. Er war jetzt einfach ein Lächeln, eine Kollektion guter Manieren, eine wehmü ti ge Verheißung, ebenso flüchtig wie die Brise, die ihm gerade die Haare aus der Stirn blies. Und all diese Jahre war er genauso verloren gewesen wie wir, hatte von Gesichtern, Musik, der Hoffnung auf Liebe gelebt, und hatte sich weiter und weiter davon en tfernt, sie zu erreichen. In ei nem Jahr würde er davon leben, Woh nungen zu putzen, allein in einem obskuren Zimmer im East Village wohnen und keinen seiner früheren Freunde mehr sehen; und wenn er ausging an die alten Plätze, an denen er getanzt hatte, würde er nicht mehr tanzen, sondern am Rand stehen, – höchstens vielleicht bei einem besonders guten Song allein tanzen oder ein Tamburin schwingen. Das stand uns allen bevor. Ent we der das oder woandershin fahren, nach Montana, Oregon, wo die Illusion von neuem beginnen konnte, mit neuen Gesichtern, Körpern, Augen, in die man sich verlieben konnte: als zufällig durchreisender Fremder.
Ein schöner dunkeläugiger Junge in einer roten Bade hose glitt in diesem Moment auf seinem Segelboot vor bei. Er schaute Malone an. Ihre Blicke verschränkten sich ineinander, und der dunkeläugige Junge segelte weiter hinaus in die Bucht und wandte seinen Kopf in der Brise des Sonnenuntergangs zurück, um weiter seine Augen auf Malone ruhen zu lassen, solange er konnte, bis sein Boot nur noch ein bläulich-rosa Fleck in der dickflüssigen Dämmerung war, die sich auf die Bucht senkte.
„So sollten alle meine Beziehungen enden“, lächelte Malone. „Sich auflösen im Sonnenuntergang.“ Denn es gab sicher auch in San Francisco und in Chicago süd ländische Jugendliche; und in Los Angeles und in den öffentlichen Parks von Bogota und Rio de Janeiro. Die ser Gedanke – an all die Jungen, mit denen er noch schlafen könnte (der Trost für jedes romantische Herz) – löste sich auf in der Erinnerung an den einen Jungen, mit dem er nicht geschlafen hatte, als wieder ein Boot vorbeifuhr. Es zog vier Wasserski-Läufer hinter sich her, die zu einem letzten Rennen hinausfuhren, und einer von ihnen, ein gutaussehender puertoricanischer Arzt, rief zu Malone herüber: „Hast du das über Bob gehört? Es hat mir das Herz gebrochen!“ Malone nick te nur und schüttelte dann den Kopf.
Das ist die schönste Illusion von Homosexuellen und verwandten romantischen Seelen: wenn ich nur diesen einen geliebt hätte ...
Was hatte diesen 23-jährigen jungen Mann, dessen blonde Schönheit selbst Malone an dem Tag, an dem er ihn zum ersten Mal im Sportstudio gesehen hatte, wieder an den Frühling seiner verpaßten Jugend hatte glauben lassen, dazu gebracht, sich umzubringen? Sein Gesicht wurde ganz traurig, als er von dieser Nach richt sprach, die der ganzen Insel einen Schock versetzt hatte, so weit das überhaupt möglich war, und die ihn, als er jetzt darüber sprach, noch immer unter seinem Baumwollhemd zittern ließ. Diese 23-jährige Schön heit, die noch ihr ganzes Leben vor sich hatte, dieser Junge aus Idaho – hatte sich die Handgelenke aufge schlitzt und dann die Kehle, und sich neun Stockwerke hinab von der Spitze seines Wohnhauses auf den damp fen den Asphalt gestürzt, an diesem heißesten aller heißen New Yorker Nachmittage, jetzt vor genau vier Stunden. Wem hatte er damit ein Ende gesetzt?
Malone kannte den Freund des Jungen, er selbst war einmal Malones Ideal gewesen, und ihre Liebe war für ihn eine der Sicherheiten seines neurotischen Lebens gewesen; und nun hatte der Junge, mit seinen feinen Knochen, seiner gazellenhaften Anmut, seinen langen Schenkeln und ho c hangesetzten Arschbacken, sich die Venen aufgeschlitzt, und sich auf den verdreckten Bür ger steig gestürzt, den
Weitere Kostenlose Bücher