Tänzerin der Nacht - Feehan, C: Tänzerin der Nacht - Night Game
Jahren nicht mehr gedacht. Sie hatte es sich nicht gestattet, an die anderen Mädchen zu denken. Es war schmerzhaft, sich an sie zu erinnern. An ihre Stimmen und an ihr Gelächter. An ihr Schluchzen, wenn der Schmerz, den der Einsatz ihrer übersinnlichen Fähigkeiten verursachte, zu groß wurde.
Tansy hatte ihr das Haar gebürstet, wenn sie die Erlaubnis hatten, zusammen zu sein, und als ihr alle Haare ausgefallen waren, hatte sie gemeinsam mit Flame geweint. Wer war sonst noch da gewesen? Dahlia. Sie war recht gut mit Dahlia befreundet gewesen, dem anderen »bösen« Mädchen. Und mit Lily. Flame schnappte hörbar nach Luft. Sie erinnerte sich daran, wie sie ihren Kopf auf Lilys Schoß gelegt hatte, während Lily ihren kahlen Kopf gestreichelt, sie sachte gewiegt und ihr zugeflüstert hatte, alles würde wieder gut werden.
Damals hatte sie Lily geglaubt. Und vielleicht hatte ihr Verrat sie gerade deshalb so tief getroffen. Flame hatte monatelang an ihrem ersten Fluchtplan gefeilt, das Geheimnis sorgsam gehütet und sich niemandem anvertraut. Bis zu diesem einen Moment der Schwäche. Sie war die ganze
Nacht auf gewesen, da die Nachwirkungen der Chemotherapie sie ununterbrochen würgen ließen, und hatte hilflos ihrem verlorenen Haar nachgeweint, und die anderen Mädchen hatten bei ihr gesessen, ihre Hände gehalten, ihr das Gesicht gewaschen und mit ihr geweint. Und Flame hatte die bodenlose Dummheit besessen, sich den anderen Mädchen anzuvertrauen. Lily hatte heftige Einwände erhoben und behauptet, sie fürchtete, ohne Behandlung würde Flame sterben, aber das war Flame ganz egal gewesen. Sie hatte sich ausgerechnet, dass Whitney sie ohnehin töten würde.
Lily hatte Flame diese Freiheit nicht zugestanden. Sie war zu ihrem Vater gegangen und hatte ihm von Flames Plan erzählt. Whitneys Männer hatten sie bereits erwartet, als sie geflohen war. Sie war für ihren Fluchtversuch bestraft worden. Er hatte sie wochenlang eingesperrt, und sie hatte die anderen Mädchen nicht sehen dürfen. Sie war so krank gewesen, und Whitney hatte sie gezwungen, die Medizin zu nehmen; er hatte ihr sogar Spritzen gegeben, während starke Männer sie festhielten. Lily hatte sich einmal heimlich zu ihr geschlichen, um zu gestehen, was sie getan hatte, und ihr zuzuflüstern, es täte ihr leid, aber Flame hatte ihr Gesicht abgewandt und nie mehr ein Wort mit ihr geredet.
Ihren Kopf durchzuckte ein so heftiger Schmerz, dass sie den Schmerz in ihrem Arm vorübergehend nicht mehr wahrnahm. Es verschlug ihr den Atem, und sie krümmte sich und atmete tief ein, um nicht ohnmächtig zu werden. Es war eigentümlich, aber sie brachte Schmerz immer mit ihren Erinnerungen an die anderen Mädchen in Verbindung. Sie versuchte, nie an sie zu denken, nicht als Kinder, nicht an die Zeit, als sie zusammen gewesen waren.
Flame verdrängte alle Erinnerungen und stellte sich vor,
ihr Gehirn sei eine Tafel und sie könnte sämtliche Gedanken einfach wegwischen. Sie würde nicht an ihre Vergangenheit denken. Sie würde nicht an Raoul und an ihre trostlose Zukunft denken, und sie würde weder die gebrochenen Knochen in ihrem Arm noch die offene Fleischwunde an der Stelle fühlen, an der der Alligator zugebissen hatte. Sie würde sich ausschließlich auf das Laufen konzentrieren.
Es regnete unaufhörlich, als hinge das Unwetter direkt über der Insel fest. Sie war durchnässt und schlammig, Blut rann an ihrem Arm hinunter, und ihr Haar klebte an ihrem Gesicht. Sie stolperte wieder und blieb stehen, weil der stechende Schmerz bewirkte, dass ihr übel wurde. Sie sah sich sorgfältig nach allen Seiten um, und als sie das tat, blickte sie finster, und all ihre Sinne waren plötzlich in Alarmbereitschaft.
Sie wollte sich nur noch hinlegen und schlafen. Der Tritt traf sie so fest, dass sie rückwärts wankte und auf den Hintern fiel, wobei sie schützend ihren Arm hielt. Sie sah tatsächlich Sterne, als sie darum rang, das Bewusstsein nicht zu verlieren. Sowie sie den Schmerz wieder unter Kontrolle hatte, zwang sie sich, den Kopf zu heben und ihren Angreifer anzusehen. Ein Mann in militärischer Tarnkleidung stand neben ihr und hielt sein Gewehr auf ihr Gesicht gerichtet.
Sie fing an zu lachen, und in dem Geräusch schwang eine Spur von Hysterie mit. »Du glaubst gar nicht, wie teuflisch weh das tut. Du tätest mir einen Gefallen. Mach schon, erschieß mich.«
»Steh auf.« Er sah nach rechts und nach links und beugte sich dann herunter, packte ihren gesunden
Weitere Kostenlose Bücher