Täuscher
aber jetzt? Eine Gänsehaut lief ihr über den Rücken, wenn sie nur daran dachte. Das Bild der alten Ganslmeier, wie sie da in ihrem Bett gesessen war mit dem Tuch über dem Kopf, wie der Todesengel. Das ging ihr immer und immer wieder durch den Kopf, sie durfte gar nicht daran denken. Und die Clara, grauenhaft!
Bertha Beer rückte ihren Hut etwas zurecht. Sie hätte sich nicht so lange aufhalten lassen sollen, aber seit es sich in der Stadt wie ein Lauffeuer verbreitet hatte, dass sie mit dabei gewesen war, als die Ganslmeier’sche Wohnung polizeilich geöffnet wurde, konnte sie sich kaum noch vor Einladungen retten. Hätte sie all die Offerten wahrgenommen, hätte sie in der nächsten Woche wohl kaum noch Zeit gehabt, ins Geschäft zu gehen.
Sie genoss die Aufmerksamkeit, die ihr zuteilwurde. Die Gustl, ängstlich,wie sie immer schon gewesen war, zog sich da lieber etwas zurück, das war auch der Grund gewesen, warum sie heute Nachmittag allein zum Tee bei der Familie Günzinger gegangen war. Und vor lauter Reden und Erzählen hatte sie dann die Zeit ganz vergessen, und nun musste sie nach Einbruch der Dunkelheit nach Hause gehen. Einen Schirm hatte sie auch nicht mitgenommen. Bertha Beer ärgerte sich über sich selbst.
Der Nachmittag war recht unterhaltsam verlaufen, soweit man bei so einem ernsten Thema davon reden durfte. Aber warum eigentlich nicht, Bertha Beer hatte sich sehr pietätvoll über das Auffinden der Ganslmeier’schen geäußert. Sie hielt es geradezu für ihre Pflicht, dies möglichst präzise und genau zu tun.
Danach war das übliche Gerede über den Täuscher gefolgt – für sie und einen jeden, der bei klarem Verstand war, stand fest, dass er der Mörder war. Da konnte einer sagen, was er wollte. Es deutete doch alles auf ihn hin. Und dass er ein Weiberer war, das stand außer Frage.
Sie hatte der Günzinger auch in allen Farben ausgemalt, wie sich die Clara Ganslmeier noch vor wenigen Wochen ihrer Schwester, der Gustl, gegenüber geäußert hatte, dass sie sich vor ihm fürchtete. Und nun? Sie hatte wirklich allen Grund gehabt, aber jetzt war es zu spät.
Nach dem Tee hatte die Günzinger ihr noch ein Glas Portwein angeboten. Bertha Beer lehnte nicht ab, und während sie dem süßen Wein immer mehr und mehr zusprach und merkte, wie dieser ihr zu Kopf stieg, löste sich ihre Zunge. Die Theorien über das Wie und Warum und auch die Tat selbst wurden immer ausführlicher debattiert. Der doch etwas lockerere Lebenswandel der Clara Ganslmeier rückte dabei immer stärker ins Zentrum des Gespräches. Zwar sollte man über Tote nichts Böses sagen, aber das Gerücht, dass die Clara neben ihrem Verhältnis mit dem Täuscher auch noch ein weiteres zu einem verheirateten Mann in hoher gesellschaftlicher Stellung gehabt hatte, galt in der Stadt als offenes Geheimnis. Wenn auch über die Identität dieses Mannes nur spekuliert werden konnte.
Bertha Beer querte die Steckengasse und bog in die Zwerggasse ein. Sie blickte sich um, konnte aber keine Menschenseele entdecken. Kein Wunder bei diesem Wetter.
In der Zwerggasse war das Geräusch hinter ihr auf einmal deutlich zu hören. Sie hatte sich nicht getäuscht, ihr war jemand gefolgt. Sollte sie schneller gehen? Oder einfach so tun, als hätte sie den Verfolger nicht bemerkt? Ihre Beschwingtheit löste sich nun schlagartig auf. Bertha Beer entschied sich dafür, auf der Hut zu sein und zuerst einmal abzuwarten.
Der Unbekannte folgte ihr rasch. Sie wagte kaum noch, zu atmen. Was sollte sie tun? Die Schritte kamen immer näher.
»Lass dir nichts anmerken, bleib ruhig«, ging es ihr durch den Kopf. »Und wenn es doch nicht der Täuscher war? Und der wahre Mörder treibt sich noch hier in der Stadt herum?«
Sie konnte ihn bereits ganz nah hinter sich hören. Bertha Beer war bis aufs Äußerste angespannt. Sie war noch nicht bis zur Hälfte der Zwerggasse gelangt, hatte noch ein ganzes Stück bis zur Schirmgasse. Sie rannte fast, doch der hinter ihr ließ sich nicht abschütteln.
Vom anderen Ende der Gasse näherte sich ein Passant. Bertha Beer merkte, wie ihr ein Stein vom Herzen fiel. Der andere konnte sie sehen, sie konnte schreien, sollte sie angegriffen werden. Der Unbekannte war nun auf gleicher Höhe mit ihr, sie wagte es nicht, ihn anzusehen. Der Mann vom anderen Ende der Gasse war nur noch ein paar Meter von ihr und ihrem Verfolger entfernt.
Dieser überholte sie, rempelte sie dabei an und rannte die Gasse entlang. Bertha Beer stieß
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