Tag, an dem meine Schwester zur Dämonin wurde
schneidend an, aber Blicke brauchte sie nicht zu fürchten – Worte schon. Ein Wort von Giulia könnte sie von hier wegjagen, einsperren, verletzen. Sie wusste nicht, was schlimmer war, hielt die stumme Überwachung nicht länger aus. »Jetzt raus hier, er muss sich ausschlafen.«
»Wer bist du, dass du uns befiehlst, Narbengesicht?«
Seine Freundin. Es hätte warm geklungen, intim, kostbar. »Jemand, der dir sämtliche Knochen brechen kann.«
»Viel eher jemand, der seinen Platz hier noch nicht akzeptiert hat. Soll ich es dir noch einmal anschaulich machen?«
»Giulia?« Die Stimme schwang herein wie das Rauschen der Amrumwellen, das Zarah immer noch in den Ohren klang. »Ich glaube, mein Bruder braucht tatsächlich etwas Ruhe. Lass uns gehen.«
Giulias Silhouette wirkte steif im grauen Morgendunst, während an Alessa alles so weich und zart schien. »Was tust du hier? Musst du nicht …« Giulia sah sich nach Tissan um, doch dieser wich einen Schritt zurück.
»Alessa, was soll das?« Giulias Züge wurden kantig wie grob gehobelt. »Überleg dir, auf wessen Seite du stehst. Du gehörst doch zu uns, nicht zu dieser …«, eine Hand wies auf Zarah, »dämonischen Missgeburt.«
Alessa trat vor, in ihrem Ton klirrte eine gezogene Klinge. » Mein Bruder muss jetzt schlafen. Ich wäre dir sehr verbunden, wenn du gehst. Tissan, du auch.«
Für einen Wimpernschlag blieb die Zeit stehen. Bis Tissan in den Flur trottete. Zögernd folgte Guilia ihm, verlangsamte jedoch den Schritt, als sie an Alessa vorbeikam. »Unglaublich, wie schnell du vergessen hast, was Dämonen deiner Familie angetan haben. Was sie uns allen angetan haben.«
Zarah wartete, bis die Schritte der beiden verklungen waren, dann ging auch sie. Alessa lief ihr nach. »Nein, nein, du kannst doch bleiben! Ich denke … ich denke, mein Bruder würde es sich wünschen.«
Sie ging schneller, ohne sich umzudrehen, ohne vom Boden aufzuschauen.
»Zarah!«
Zarah schüttelte die Hand, die sie zurückhalten wollte, ab. Menschen durfte man nicht trauen, vor allem nicht ihrer Herzlichkeit, Reue, Zuneigung.
In ihrem Zimmer zog sie sich aus und kroch ins Bett. Sie dachte, sie würde sofort einschlafen, doch stattdessen wälzte sie sich hin und her, während Minuten immer mehr Stunden ähnelten. Die Laken fühlten sich klamm an.
Sie verharrte auf dem Rücken und atmete in der Stille. Die Stille war zäh und schwer. Zwischen zwei Atemzügen glaubte sie, den Schimmel in der Ecke wuchern zu hören. Das Bett blieb kalt, ihre Körperwärme schien dagegen nicht anzukommen. Irgendwann warf sie die Decke zurück und lauschte. Das Haus gab keinen Laut von sich.
Sie stahl sich den Korridor entlang, der tatsächlich leer vor ihr lag – bis sie an einer Tür jemanden kauern sah und ein leises Stammeln hörte: »Sssun, Sun.«
»Tara?« Sie kam näher. »Ist alles in Ordnung?«
Das Mädchen hob den Kopf, anscheinend völlig verschreckt, weil jemand zu ihm sprach, ohne es anzuschreien. »Sun«, flüsterte es und strich mit einer Hand über den Rahmen, als würde es einen Menschen streicheln, ihn trösten.
»Ist das Tissans Zimmer?« Sie hörte etwas. Zögerte, dann spähte sie durch das Schlüsselloch. Tissan kauerte auf dem Boden. Nackt. Die dünne Haut schien direkt über seinen Knochen zu spannen. Vor ihm stand eine aufgeschraubte große Dose mit Fettcreme. Er nahm reichlich daraus, strich es sich auf den Körper und weinte.
»Sun …« Jedem seiner Schluchzer, die durch die Tür drangen, folgte ein Wispern des Mädchens, das davorhockte.
Zarah erinnerte sich daran, wie Alessa sie vor nicht allzu langer Zeit ermuntert hatte, Gallagher die Treppe hoch zu folgen. Sie beugte sich zu dem Mädchen. »Geh. Geh zu ihm. Ich glaube, er braucht jemanden, der ihm klarmacht, dass er keine Missgestalt ist, egal, wie er seit dem Vorfall aussehen muss. Denn dich ekeln seine Berührungen nicht, oder?«
Tara schüttelte den Kopf. »Sun. Sun.«
»Dann geh zu ihm.«
Zarahs Mundwinkel zuckten, und sie merkte, dass sie lächelte. Dass sie das Mädchen anlächelte. Und sich fragte, wie sie all die Jahre eine Dämonin sein konnte, ohne zu lächeln, ohne zu lieben, ohne für die anderen, die sie vielleicht nichts angingen, da zu sein.
Mit diesem Lächeln schlich sie in Gallaghers Zimmer.
Hier war die Stille zart und zerbrechlich.
Auf nackten Sohlen pirschte sie sich an sein Bett. Sie wollte einfach wissen, ob es ihm gut ging, mehr nicht.
Dann schlüpfte sie zu ihm unter die
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