Tag, an dem meine Schwester zur Dämonin wurde
habe ich noch keine bleibenden Schäden davongetragen.«
Zarah ballte die Hände, richtete sich auf. »Verschwinde von hier.«
»Ach. Keine weiteren Zärtlichkeiten?« Er überragte sie um mehr als einen Kopf. Stand so nah, dass sie seinen Duft durch die feuchte Luft, den welken Herbstgeruch und ihren Zorn einatmete. Er roch nach Morgentau. Nach rauem Nordwind und ein klein wenig nach dem ersten Kuss.
Sie zuckte zusammen, als seine Finger vorsichtig über das wulstige Gewebe der Narbe strichen. Noch bevor sie sich versah, ließ er die Hand sinken. »Ich bin untröstlich.«
Schon sah sie nur noch seinen Rücken, beobachtete, wie er fortging und auf das Motorrad stieg.
»Zarah?« Er startete den Elektromotor. »Lessa geht es gut. Und Ashriel auch.«
Im nächsten Augenblick brauste er davon.
Ihre Finger lagen auf der Narbe, dort, wo Gallagher sie berührt hatte. Zum ersten Mal zuckte ihre Hand nicht zurück, sondern wanderte durch die furchige Landschaft ihrer Wange. Er hatte es riskiert, mit einer Geächteten zu reden. Er hatte sie tatsächlich berührt . Für jemanden aus einer so niedrigen Dämonenkaste wie der, der er und seine Erzeuger angehörten, konnte schon ein erheblich geringeres Vergehen zum Verhängnis werden.
Enya stöhnte. Mit zittrigen Händen klammerte sie sich an das Treppengeländer. Zarah eilte zu ihr.
»Ist alles in Ordnung?« Über Gallaghers Worte würde sie später nachdenken müssen.
»Lass mich in Ruhe.«
»Ich will doch nicht, dass dir jemand wehtut. Du kennst diesen Dämon nicht. Du weißt nicht, wozu er imstande ist.«
Mich zu berühren. Mich zu zwingen, wieder zu fühlen.
»Doch.« Enyas Unterlippe zuckte. »Zum Beispiel dazu, uns einen Kanonenofen zu schenken. Furchtbar, nicht wahr? Endlich mal wieder warmes Essen zu bekommen.«
Sie zu berühren. Sie zu verletzen, wie er mich verletzt hat.
Sie ertrug den Anblick der verklebten Wimpern keine Sekunde länger, schaute entlang des Kiesweges, der zum rostigen Tor führte. Schon lange bevor sie hier eingezogen waren, hatte das Unkraut von dem schmalen Pfad Besitz ergriffen. »Wir brauchen weder seinen Kanonenofen noch irgendwelche sonstigen Almosen von ihm.«
»Doch, Zarah. Brauchen wir sehr wohl. Du bist nur zu blind, um es zu erkennen, und zu stolz, um Hilfe anzunehmen. Wir haben weder Strom noch fließendes Wasser. Unser Geschäft müssen wir im Garten wie Hunde verrichten. Und wenn ich eine Möglichkeit bekomme, etwas Warmes zu mir zu nehmen, dann lehne ich das doch nicht ab.«
»Gut.« Sie schloss die Lider. »Du hast recht.« Mit Mühe blickte sie in die schiefergrauen Augen mit den getuschten Wimpern. Vielleicht würde es ihr später gelingen, Enya die Wahrheit über Gallagher begreiflich zu machen, jetzt sicher nicht mehr. »Ich wollte bloß nicht, dass du …«
»Ich? Es geht hier nicht um mich, es geht um uns! Hör endlich auf, mich ständig zu bemuttern. Glaubst du wirklich, ich merke nicht, was um uns herum passiert?« Enya schüttelte Zarahs Hände ab und tastete nach dem Rollstuhl.
»Warte, ich helfe dir.«
»Lass! Genau das ist es doch, ich ersticke an deiner Fürsorge. Vielleicht fängst du zur Abwechslung an, dein eigenes Leben zu leben.«
Der Rollstuhl rumpelte die notdürftig zusammengezimmerte Rampe hoch, die Tür fiel hinter Enya zu und ging sogleich wieder einen Spalt auf. Das Schloss hatte noch nie funktioniert, darum hatten sie diese Bleibe überhaupt in Besitz nehmen können.
»Mein eigenes Leben leben.« Sie zerrte an der Armfessel. Welches eigene Leben, wenn sie sich einmal monatlich für jeden Schritt und jeden Pulsschlag vor ihrem Überwachungsbeauftragten rechtfertigen musste?
Sie musste alles in Ordnung bringen. Das Rätsel mit dem Formwandler und dem Gluhschwanz lösen und die Vergebung der Nachtseite erlangen. Dann gebe es das Leben wieder.
Beschaffe dir mehr Informationen! Eine lichte Flut durchströmte ihr Inneres. Eine Eingebung. Bei Gallagher!
Bei Gallagher. Der sie neckte, der überhaupt mit ihr sprach . Langsam manifestierte sich ein Plan in ihrem Kopf. Zugegeben, ein recht unsicherer Plan, aber für den Anfang musste er reichen.
Sie ging zu ihrem Fahrrad. Gallagher wohnte im zentral gelegenen Hohenfelde. Sie würde gut 45 Minuten brauchen, um bei ihm anzukommen, während die Armfessel die Abweichung von ihrem üblichen Lebensablauf Sekunde für Sekunde registrieren würde. Der letzte Speicherleerungs- und Auswertungstermin war vor vier Tagen gewesen. Sie hatte also dreieinhalb
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