Tag der Buße
zwanzig Jahren für eine halbe Million gekauft worden. Warum soviel? Peretz Schaltz hatte sehr gut ausgesehen – ein großer Mann von über einsachtzig mit breiten Schultern. Außerdem hatte er einen College-Abschluß in Chemie, aber das war für Mr. Kornitski nicht so wichtig gewesen. Onkel Perry war ein gebildeter Talmudschüler. Das zählte für Mr. Kornitski. Dennoch hatte Mr. Kornitski nicht deshalb soviel bezahlt, weil Onkel Perry gebildet war. Er hatte soviel bezahlt, weil seine Tochter Bracha verrückt war.
Alle wußten, daß Bracha verrückt war. Sie hatte Phasen, in denen sie halbwegs funktionierte – sie unterrichtete sogar eine Weile an der örtlichen Mädchenschule. Aber sie war immer sehr wunderlich gewesen. Tante Bracha trug zehn Lagen Kleider übereinander. Tante Bracha rasierte sich den Kopf und trug scheußliche Perücken – lange schwarze Locken, die ihr bis zur Taille fielen und mit denen sie wie eine Hexe aussah. Tante Bracha warf nie etwas weg. Sie bewahrte jede Einkaufstüte auf, jeden Kassenbon und jeden Karton, den sie je aus einem Laden mitgenommen hatte. Ihre Kleiderschränke waren vollgestopft mit sämtlichen Sachen, die sie jemals getragen hatte, mit jedem Paar Schuhe, das je ihre Füße geziert hatte. Tante Bracha war außerdem sehr ängstlich – auf absurde Weise ängstlich. Wenn ein Hund oder eine Katze in ihre Nähe kam, wurde sie meschugenah. Dann schloß sie sich in ihrem Zimmer ein und kam tagelang nicht wieder raus. Selbst der Anblick einer Fliege konnte sie in Panik versetzen. Deswegen verlor sie schließlich ihren Job. Man kann nicht unterrichten und jedes Mal durchdrehen, wenn eine Fliege an einem vorbeifliegt.
Tante Bracha und Onkel Perry wohnten in einem großen Haus in Kew Gardens, weil Onkel Perry nirgendwo leben wollte, wo die Leute Tante Brachas Geschichte kannten. Er hielt immer die Vorhänge zugezogen, das Licht aus und die Tür abgeschlossen und erzählte jedem in der Gegend, daß seine Frau sehr, sehr krank sei.
»Was ja auch stimmte«, sagte Big Hersh. »Sie ist krank.«
»Wie sind Sie mit ihnen verwandt?« fragte Decker.
»Meine Mutter und Peretz Schaltz waren Geschwister«, sagte Big Hersh. »Bubbe und Sejde Schaltz waren die nettesten Menschen der Welt. Einfache Leute. Sejde war Fischhändler. Ich hab den Laden nach seinem Tod übernommen und ein gewinnbringendes Geschäft daraus gemacht. Sejde, alaw ha-Schalom, hat den Laden als wohltätiges Unternehmen gesehen. Er hat viel verschenkt. Und die Leute haben ihn furchtbar ausgenutzt. Wenn eine Frau sagte, etwas war zu teuer, ist er mit dem Preis runtergegangen. Wenn eine andere sagte, der Fisch war nicht frisch gewesen, hat er ihr das Geld zurückerstattet, selbst wenn ihr Mann den Fisch zum Abendessen gegessen hatte. Und er hat sich nie beklagt. Ich glaube, Sejde war der einzige in der ganzen Sippschaft, der sich wirklich um Hersh kümmerte. Sonntags fuhr er immer nach Kew Gardens, um ihn abzuholen und mit ihm zu arbeiten. Er tat so, als ob er Hersh im Geschäft brauchte, aber es war reine Barmherzigkeit. Hersh tat ihm leid. Und er liebte ihn. Ich glaube, Hersh liebte Sejde auch. Sejde war der einzige Mensch, dem Hersh je nahegestanden hat. Aber Sejde verstand sich mit allen gut. Alle liebten ihn – liebten ihn wirklich.«
»Hat Peretz seinen Vater geliebt?« fragte Decker.
Big Hersh lachte verbittert. »Da haben Sie mich erwischt. Nun ja, ich war damals zwar jung, aber es war nicht zu übersehen. Onkel Perry war ganz anders als er. Für den Fischladen hatte er nur Verachtung übrig, und für seine Eltern offenbar auch. Allerdings ist er sehr arm aufgewachsen. Meine Mutter hat gesagt, sie hätten gar nichts gehabt. Als dann Tante Bracha daherkam, habe Peretz einfach zugegriffen, erzählte meine Mutter.«
»Was hatte Ihr Onkel Perry denn für ein Verhältnis zu seinem Sohn?« fragte Decker.
»Ich würde sagen überhaupt keins. Aber ich war nicht oft bei ihnen, wie soll ich das da beurteilen, nu? Doch seine Abneigung schien größtenteils gegen Bracha gerichtet gewesen zu sein. Er haßte alles an ihr, aber wenn er das Geld wollte, mußte er bei ihr bleiben. Brachas Eltern gaben ihm das Geld nämlich nicht auf einmal. Sie ließen es ihm nur in kleinen Häppchen zukommen. Und meine Mutter hat mir erzählt, daß sie alle möglichen Bedingungen daran geknüpft hätten. Onkel Perry mußte ein Szatmar-Chassid sein – was er damals auch war. Also stellte das eigentlich kein Problem dar. Bubbe und Sejde
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