Tag der Entscheidung
»Bei den Göttern«, unterbrach er seine Melodie mit einem Flüstern, »was wäre das Leben ohne die Politik?«
Das Kaiserreich trauerte. Nach der Verkündung von Ichindars Tod waren die Tore zum Kaiserlichen Viertel mit lautem Dröhnen geschlossen worden, und die traditionellen roten Banner der Trauer hatten sich auf den Mauern entfaltet. Die Landstraßen und der Gagajin waren jetzt voller Boten. Die seltenen Metallgongschläge in den Tempeln der Zwanzig Höheren Götter ertönten in Huldigung des Weggangs von Ichindar einundneunzigmal, je einer für jede Generation seines Geschlechts. Die Stadt trauerte der Tradition entsprechend zwanzig Tage; alle Geschäfte, die keine lebensnotwendigen Waren verkauften, hatten ihre Türen mit roten Wimpeln oder Fähnchen verschlossen.
Auf den Straßen innerhalb Kentosanis war es still; die Schreie der Nahrungsmittelverkäufer und Wasserhändler waren verstummt. Nur der Gesang der Priester für den seligen Verstorbenen erklang in der Morgenstille. Die Tradition schrieb ebenfalls vor, daß Unterhaltungen in den Straßen verboten waren, und selbst die Bettler der Stadt mußten stumm, nur mit Gesten, um Almosen betteln. Turakamu, der Rote Gott, hatte die Stimme des Himmels auf der Erde zum Schweigen gebracht, und während Ichindars einbalsamierter Körper in seinem prächtigsten Gewand inmitten eines Kreises aus flackernden Kerzen und singenden Priestern lag, schwieg die Heilige Stadt aus Respekt und Trauer.
Am einundzwanzigsten Tag dann würde das Licht des Himmels auf dem Scheiterhaufen aufgebahrt werden, und der gewählte, von den Priestern der Höheren und Geringeren Götter gesalbte Nachfolger würde den Goldenen Thron besteigen, während die Asche abkühlte.
In Erwartung dieses Tages wurden Intrigen gesponnen und Armeen zusammengezogen. Auch an der Versammlung der Magier ging die Unruhe der Menschen nicht vorbei.
Außerhalb der Stadttore warteten die Handelsbarken; sie waren entweder am Ufer verankert oder verstopften die Docks von Silmani und Sulan-Qu, während sie die Trauerphase des Kaisers befolgten. Die Preise für die Miete von Lagerraum in den Lagerhäusern schnellten in die Höhe, da die Händler nach Möglichkeiten suchten, ihre verderblichen Güter sicher unterzubringen, genau wie ihre kostbaren Wertsachen, die sie nicht unter ungenügender Bewachung auf den Booten zurücklassen wollten. Die weniger glücklichen Makler baten um Platz in privaten Kellern und auf Speichern, und die ganz Unglücklichen verloren ihre Waren in den Wirren des Krieges.
Clans versammelten sich, und die Streitkräfte der Häuser bewaffneten sich. Über den Straßen schwebte der Staub des Spätsommers, der von Tausenden von Füßen aufgewühlt wurde. Die Flüsse waren vollgestopft mit Flottillen aus Barken und Kriegsbooten, und alle mit Rudern oder Staken ausgestatteten Schiffe waren in Beschlag genommen worden, um Krieger zu transportieren. Das Nachsehen hatten die Händler, da ganze Ladungen über Bord geworfen wurden, um der menschlichen Fracht Platz zu machen; in den Städten wurden die Nahrungsmittel knapp, weil den Händlern ganze Wagenladungen an Gemüse, Obst und Fisch abgekauft wurden, ehe sie überhaupt bei den Stadtmärkten eintreffen konnten. Der Tauschhandel an der Landstraße fand nicht selten vor der Spitze eines Speers statt. Die Bauern litten. Die Reichen klagten über hohe Preise, die Kaufleute über gewaltige Einbußen; derweil hungerten die Ärmsten der Armen und durchstöberten die Straßen.
Die Herrscher, die Patrouillen hätten ausschicken können, um die Massen zu bändigen und die Ordnung wiederherzustellen, waren mit anderen Dingen beschäftigt. Sie sandten ihre Krieger aus, um diese oder jene Fraktion zu unterstützen oder die hektische Unruhe auszunutzen und jene Feinde zu überfallen, deren Heimatgarnisonen unterbesetzt waren, da sich die übrigen Krieger auf eine Feldschlacht vorbereiteten. Überfälle bedrohten die Armenviertel, während Profitmacher durch überhöhte Preise fett wurden.
Die verschiedenen Gruppierungen des Kaiserreiches bewaffneten sich und schlossen sich zu gewaltigen Kriegsheeren zusammen, und trotz der vielen Häuser, deren Truppen bei Kentosani zusammenströmten, zeichneten sich die Fahnen drei der führenden Häuser auf verdächtige Weise durch ihre Abwesenheit aus: das Grün der Acoma, das Blau der Shinzawai und das Rot und Gelb der Anasati.
In einem hohen Turm in der Stadt der Magier saß der Erhabene Shimone in einem
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