Tag der geschlossenen Tür
über die Zukunft tauchen wir als vorbeihuschende Schemen auf. Und je weiter ihr Leben zurückliegt und je länger sie hier hängen, desto mehr Zukünftiges werden sie gesehen haben. Desto größer wird die gleichförmige Schar der bunt bekleideten Glotzenden sein, an denen sie erkennen können, dass die Menschheit sich im freien Fall in den Orkus der Profanität befindet.
Außer mir und den Zukunftsforschern halten sich heute kaum Menschen in diesen Räumen auf. In jedem dritten Raum steht eine Wärterin, selten ein Wärter. Sie sind das eigentliche Ziel meines Interesses. Wie verhalten sie sich, was ist das Spezielle an ihrem Beruf, was verbindet sie miteinander? In einem großen Raum mit vielen Bildern setze ich mich auf eine Bank und ruhe mich aus. Aus den Augenwinkeln beobachte ich die ältere Dame, die in einem dunkelblauen Kostüm, mit rotem Halstuch und einem Namensanstecker an den Bildern vorbeidefiliert. Nie richtet sie ihren Blick auf die Kunst, stets bleibt er auf den Boden gerichtet, nur manchmal hebt er sich, durchmisst kurz den Raum und wandert dann weiter über die Dielen. Keine Regung zeigt sich in ihrem Gesicht, sie hat es mit Gleichgültigkeit eingerieben. Schließlich fällt mir auf, was sie sind, diese Museumswärter: Soldaten. Soldaten, deren Aufgabe es ist, Präsenz zu zeigen, die anderen von den Beobachtern zu trennen, die Mauer aufrechtzuerhalten. Auf dass keiner aus seinem Rahmen springe, auf dass jeder in seiner eigenen Welt bleibe. Die Leibgarde der Zukunftsforscher im Kampf gegen das Heer der Ikonoklasten von heute. Der Bilderstürmer aus dem Morgenland.
Diese Soldaten haben kein Interesse zu haben, weder an der Kunst noch an den Menschen. Ich versuche mir für einen Moment vorzustellen, wie es wohl wäre, hier zu arbeiten. Jeden Tag acht Stunden zu schweigen, gemessen zu schreiten, ruhig zu stehen, permanent in sich gewandt zu sein, kurz zurechtzuweisen, hier eine Bemerkung, dort ein Blick, immer auf Distanz zu bleiben. Ganz unten in der gesellschaftlichen Hierarchie und dennoch befugt, selbst die Allerobersten in ihre Grenzen zu weisen. Ein Museumswärter hat immer recht. Ich bemerke nach einer Weile, dass mich die Wärterin wahrgenommen hat, dass sie mich kurz von der Seite mustert. Ich bleibe ungewöhnlich lange hier sitzen, das entspricht nicht den Gewohnheiten, vielleicht hat sie in mir ihren lang ersehnten Ikonoklasten entdeckt, den Bilderstürmer ihres Lebens, randvoll mit Buttersäure, bereit, sich auf die Kunst zu stürzen und dabei das eigene Leben dem Hass zu opfern. Und noch bevor ich die Gemälde erreichen könnte, hätte sie mich bereits erwischt und würde mir mit einem Bissen den Kopf vom Halse essen, um das Schlimmste zu verhindern. Der Höhepunkt ihres Lebens wäre mit mir erreicht. Ich weiß nicht, ob ich sie noch ansprechen kann nach dieser gewaltigen Anschuldigung. Ich gebe mir einen Ruck und gehe auf sie zu. Als sie meine Annäherung bemerkt, bleibt sie stehen und schaut mich fest und prüfend an.
»Entschuldigen Sie …«
»Ja, bitte?«
»Die Frage klingt vielleicht etwas komisch, aber ich interessiere mich sehr für Ihren Beruf. Ich wäre auch gerne Museumswärter. Können Sie mir sagen, wie man das werden kann?«
Sie schaut mich einen Moment ratlos an, so als wäre ihr die Frage zu privat.
»Tja, das ist bei jedem anders. Ich habe Kunstgeschichte studiert und bin darüber vor 22 Jahren an die Stelle gekommen. Die meisten meiner Kollegen kommen aus der Kunstgeschichte.«
Meine Träume zerrinnen erneut.
»Aha. Und wenn man sich einfach nur so für Kunst interessiert, also quasi als Privatperson? Ich zum Beispiel beschäftige mich seit Jahren mit Kunst. Ich hab auch viel drüber gelesen.«
»Ach, wissen Sie, da gibt es so viele, das wird eher schwierig. Vielleicht sollten Sie es erst mal in einer Galerie probieren?«
Mit einem kurzen Blick über meine ganze Person gibt sie mir zu verstehen, dass es durchaus auch seriösere Bewerber als mich gäbe. Ich bedanke mich knapp bei ihr und schleiche von dannen. Verlasse das Museum und stehe draußen im Regen. Langsam dringt die Feuchtigkeit durch die Kleidung bis auf die Haut, durch das Fleisch und die Knochen bis zu meinem Hirn durch. Und je kälter mir wird, desto mehr regt sich in mir eine Form von Widerstand. Ich werde Museumswärter werden! Davon wird mich niemand abhalten. Ich muss aktiv gegen diese Demütigung vorgehen, auch einer wie ich darf sich nicht alles gefallen lassen! Unter so desaströsen
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