Tag der geschlossenen Tür
Ihnen zu erklären.«
Eingebildeter Affe, denke ich. Dein Pakt mit der Zeit hat dir die grauen Haar gleich büschelweise aus dem Kopf sprießen lassen. Ich beschließe, ihn als Spinner zu betrachten, und erwarte ein anstrengendes Zusammenleben: »Na gut, Bob, ich geh dann jetzt wieder. Wir sehen uns bestimmt mal. Und wie gesagt: Ich mag keinen Joghurt – auch nicht an meiner Wohnungstür …«
»Das war auch kein Joghurt …«
Ich stehe auf und mache mich zum Gehen bereit, ohne ihn zu fragen, was es denn sonst gewesen sein könnte. Ich winke ihm kurz zu und gehe. Ich würde ihn weiterhin als meinen Feind in der Protagonistenkartei führen.
Das Urteil
I m Saal haben sich alle gesetzt. Wie viele gekommen sind – es müssen Tausende sein! Man hört ein lautes Murmeln, Scharren, Stühlerücken, Federn werden geordnet, Chitin wird geglättet, einige Zeugen warten in mit Wasser gefüllten Becken, um nur ja ihre Klage vortragen zu können. Diesen Tag möchte keiner verpassen. Irgendwann wird alles zurückgezahlt. Irgendwann ist der Tag der Abrechnung. Ich fühle mich unendlich schlecht – denn sie alle sind wegen mir gekommen. Aus Tausenden Augen verschiedenster Art werde ich angestarrt, Flachaugen, Linsenaugen, Fotorezeptoren, Grubenaugen und Facettenaugen fokussieren mich: Da ist er, das Biest, der Massenmörder, diese widerwärtige Kreatur. Ein dürrer, dunkelblau gefiederter Gerichtsdiener erhebt sich:
»Meine Damen und Herren, ich bitte um Ruhe: das Oberste Gericht!«
Ein alter, gebeugter Mann betritt von hinten vorsichtig das Podium, er macht einen verwahrlosten Eindruck, seine Robe hat Mottenlöcher, er geht gebrochen, einige wenige weiße Haare sprießen noch auf seinem kleinen, hellen Kopf, der Vollbart wirkt vergilbt und fransig. Nur langsam kommt er voran, stützt sich auf einen Gehstock, erreicht schließlich den Richterstuhl und lässt sich ächzend niedersinken. Vor ihm steht ein Schild mit einem verschnörkelten Schriftzug:
Oberster Richter Dr. Gott
Er wirft einen finsteren Blick aus seinen stechenden, roten, kleinen Augen in den Saal, auf die Zeugenbänke und schließlich auf mich. Dann schlägt er ein einziges Mal knallend mit einem goldenen Hammer auf die Tischplatte vor sich. Der Saal erstarrt ehrfurchtsvoll.
»Sehr geehrte Opfer aller Art. (Atempause) Wir haben uns heute hier im Jüngsten Gericht zu einem Prozess zusammengefunden. Angeklagt ist der sogenannte Schlächter von Sankt Pauli, (Atempause) Michael Sonntag, von den Menschen genannt Sonntag. Herr Sonntag, Sie können sitzen bleiben, Ihre Personalien sind uns hinlänglich bekannt, die Richtigkeit Ihrer Angaben müssen vor dem Jüngsten Gericht nicht mehr überprüft werden, Meineide auf meine Person sind sinnlos. (Atempause) Zu den anwesenden Klägern: Die Anzahl der klagenden Opfer überschreitet deutlich die Zahl Hunderttausend, deshalb erachten wir es als sinnlos, jedes einzelne Opfer bei Namen und Art zu nennen. (Atempause) Nur so viel: 423 geschädigte Spezies haben Klage erhoben. Allein im Bereich der Kleintiere und Insekten hat der Angeklagte die schockierende Anzahl von 87 236 Opfern zu verantworten. (Atempause) Natürlich ungezählt die Opfer aus dem bakteriellen Bereich. Getötet durch Unachtsamkeit, Gleichgültigkeit, Nachlässigkeit oder Böswilligkeit. Ein Beispiel: 3203 Schnaken und Stechmücken erheben Klage gegen den Angeklagten wegen böswilliger Nachstellung und brutaler Erschlagung. (Atempause) 847 Mauer- und Rollasseln wollen von Ihnen nachlässig zertreten worden sein. (Atempause) Insgesamt 48 634 Bohrfliegen, Bremsen, Fleischfliegen, Minierfliegen, Saft- und Schmeißfliegen, Taufliegen, Fruchtfliegen und Dungfliegen haben Strafantrag wegen Totschlags gestellt, in den meisten Fällen konkret wegen Tötung durch beschleunigte Windschutzscheiben. (Atempause) Im Bereich der Großtiere sinken die Zahlen etwas. An immerhin 1430 Rindstötungen ist der Angeklagte beteiligt gewesen, 2234 Hühner und Hähnchen mussten wegen ihm ihr Leben lassen …«
Der Oberste Richter räuspert sich und beginnt mit einem tiefen, leisen Husten, das ihm die Kraft zum Sprechen nimmt. Ich löse den Blick von ihm und
lasse ihn durch die Reihen gleiten. All diese starren Sehorgane, Tausende von ausdruckslosen Augenpaaren, von Gesichtern, deren Mimik ich nicht verstehen kann, weil Tiermimik für Menschen nur schwer zu lesen ist. Das macht die Klage in ihren Augen noch unheimlicher. Und das Schlimme ist: Ich weiß, dass
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