Tag der geschlossenen Tür
sie alle im Recht sind. Wie soll ich mich verteidigen? Mir fällt nichts ein, was ich zu meiner Entlastung vortragen könnte. Gibt es Zeugen auf meiner Seite? Bloß nicht – die sind ja alle mindestens so schuldig wie ich, schließlich hatte ich nur mit Menschen zu tun, und die meisten waren noch achtloser und verurteilungswürdiger als ich mit meinen jämmerlichen Energiesparbirnen und dem getrennten Müll. Ich hab’s ja immer geahnt, dass das alles falsch ist. Dass mein angeblich zivilisiertes Leben eine Farce ist. Dass die Art unseres menschlichen Lebens im Ganzen eine Sackgasse ist. Dass unser Handeln nicht ohne Konsequenzen bleiben wird. Das hab ich immer gesagt! Vor Zeugen! Ich habe oft versucht, meine Mitmenschen davon zu überzeugen, dass wir unseren Lebensstil umstellen müssen! Ich wäre der Erste gewesen, der alles anders gemacht hätte. So lege ich mir schweigend im Kopf meine Verteidigung zurecht. Ich würde mich im Nachhinein gerne als Advokaten der Ausgebeuteten darstellen, gegen mich spricht allein die schiere Zahl der Opfer.
Der Oberste Richter hat sich wieder gefangen und klopft mit seinem Hammer um Ruhe.
»Angeklagter. Wir können die Liste der Anklage endlos fortsetzen. Haben Sie daran Interesse, oder gestehen Sie jetzt Ihre Gesamtschuld ein? Das könnte die Prozessdauer um einige Jahre verkürzen und Ihre Strafe abmildern, wir haben schließlich viele Milliarden anderer Fälle zu bearbeiten und müssen damit bis zum Ende der Zeiten fertig werden!«
Er blickt mich müde und resigniert an. In seinen Pupillen schwingt die Frage: Was habe ich bloß angestellt mit dieser blödsinnigen Schöpfung? Ich hätte so eine schöne Zeit alleine im All haben können, schwebend und tanzend zwischen Sonnen, Monden und Sternennebeln in der Ruhe der Unendlichkeit. Aber dann kam mir diese dämliche Idee mit dem verdammten Leben …
»Verehrter Herr Oberster Richter. Ich möchte einiges zu meiner Verteidigung vorbringen.«
»Sie haben das Wort. Aber halten Sie sich kurz.«
»Ich möchte sagen, dass ich nie böswillig gehandelt habe, das müssen Sie mir glauben. Gut, im Falle der Mücken musste ich mich einfach wehren, und die toten Mäuse sind eine Jugendsünde. Aber was kann ich denn dafür, wenn ich im Garten auf eine Kellerassel trete? Und von irgendwas muss man ja auch leben. Wäre ich Vegetarier gewesen, hätte ich Pflanzen essen müssen – sind das etwa keine Lebewesen? Das ganze System funktioniert nun mal so. Ich bin in eine Raubtierspezies hineingeboren worden, ich kann ja gar nicht anders, als schuldig zu werden. Man hat mich zum Verbrechen erzogen, Herr Richter! Das System habe ich mir nicht ausgedacht. Ich würde sagen, das System ist schuld an allem, man müsste den Erfinder des Systems ankla–«
Ich verstumme, denn beim Sprechen fällt mir auf, gegen wen ich mich hier erhebe. Die Augenschlitze des Obersten Richters sind ganz schmal geworden, er sitzt da und starrt mich an wie ein Panther vor dem Sprung. Weiße Flüssigkeit rinnt aus seinen Tränensäcken. Die Tiere im Saal sind lauter geworden, sie haben sich über meinen Rechtfertigungsversuch erregt, einige sind drauf und dran, über die Stuhlreihen zu stürmen, sie wollen Rache. Rache an mir. Der Oberste Richter schlägt mehrmals mit dem Hammer donnernd auf den Tisch. Seine Stimme dröhnt durch den Saal, wie ein tiefes Gewitter.
»Ruuuuuuheeee!«
»Gibt es eigentlich auch Zeugen, die für mich sprechen?«
»Angeklagter. Es steht eine Zeugin zu Ihrer Verfügung, sie hat bereits auf dem Zeugenstuhl Platz genommen.«
Der Oberste Richter entspannt sich wieder etwas. Mein Herz hebt sich vor Freude, weil es einen Fürsprecher gibt. Ich drehe mich zum Zeugenstuhl. Dort sitzt sie, meine Geliebte und einzige Fürsprecherin: Totelinchen. Der Oberste Richter weist mit der Hand auf sie.
»Frau Fliege, Sie haben das Wort.«
»Sehr geehrter Vorsitzender. Ich gebe zu, dass mein angetrauter Mann Michael Sonntag ein Massenmörder ist, ich habe es gewusst und kann es nicht verheimlichen. Aber er war zugleich auch ein treu sorgender Ehemann und liebevoller Freund für alle seine Mitmenschen. Wie hätte er ahnen können, dass die Legende vom Jüngsten Gericht wahr ist? Sonst hätte er sicher ganz anders gehandelt. Das hat ihm aber keiner klarmachen können, am wenigsten der Pfarrer seiner Gemeinde. Ich, die ich zu einer der besonders von den Menschen gebeutelten Arten gehöre, lege meine Fühler für ihn ins Feuer und bitte Sie, ihn
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