Tag der geschlossenen Tür
Wir setzen dich mit einem kleinen Tisch vor einen gut besuchten Bahnhof. Für jede noch gültige Karte, die man bei dir abgibt, zahlst du zwanzig Cent aus. Das gibt den Leuten ’nen Anreiz, zu dir zu kommen, weil es ihre Fahrtkosten senkt. Die abgegebenen Tickets sortierst du schön nach Richtung und Reichweite. Die anderen Leute, die noch keine Karte haben und eine kaufen wollen, kommen zu dir, weil sie die billigen Tickets mit den Restfahrstrecken kaufen können. Und zwar zum halben Preis! Kannst du dir die Gewinnmarge vorstellen? Das sind unglaubliche Summen!«
»Soso. Unglaubliche Summen. Und wie ist das mit der Rechtslage? Da kommt doch direkt die Polizei und holt mich ab.«
»Wieso denn? Du verkaufst doch nur alte weggeworfene Bahnkarten. Weggeschmissenen Müll. Was soll daran verboten sein? Im Ernst – da kann uns keiner was, das Ding ist bombensicher!«
Was soll ich antworten? Seine Argumentation ist wasserdicht. Und die Idee ist eigentlich gar nicht so schlecht, finde ich. Das einzige Problem: Ich habe keine Lust, der Ausführende zu sein.
»Nowak, die Idee ist gut, aber – warum setzt du dich nicht selber dahin?«
»Weil du dann nichts verdienen kannst. Ich denke für dich mit, Alter, ist doch klar, oder?«
»Danke, wirklich süß von dir, aber ich kann auch ganz gut für mich selber sorgen.«
»Heißt das, dass du in die Bombenidee nicht mit einsteigen willst?«
»Ehrlich gesagt, vorerst nicht. Beweis mir, dass es funktioniert, und ich mache mit.«
»Alles klar, ich habe verstanden, der Herr ist sich zu fein. Der edle Herr hat es ja wohl nicht nötig. Selbst wenn er das Geld umsonst bekommt, der edle Herr ist sich zu fein, um sich zu bücken, selbst wenn ich hinter ihm steh, um ihm zu helfen. Wenn die Drehung der Welt von Leuten wie dir abhängen würde, Sonntag, dann würde sie sofort stehen bleiben!«
»Da hast du recht, Nowak. Wenn es eine Bremse an der Welt gäbe, ich würde sie sofort ziehen.«
»Du bist echt voll der Assi. Aber ich werde dir schon noch beweisen, dass meine Idee funktioniert. So – und jetzt hätte ich gerne einen Euro von dir, für das Bier, ich muss nämlich los. Arbeiten!«
Etwas beschämt drücke ich Nowak einen Euro in die Hand. Dann verlässt er genervt meine Wohnung. Als er draußen ist, bin ich sehr erleichtert. Ich bin froh, seiner Funktionalisierung widerstanden zu haben. Aber wer weiß – vielleicht trägt seine Idee ja wirklich. Dann steige ich natürlich sofort mit ein.
Tag der geschlossenen Tür
Hey Hey Hey Hey
Die Hölle auf Erden
Jeder Tag ist schwarz wie die Nacht
Hey Hey Hey Hey
Ich glaub ich muss sterben
Ich bin wohl nicht zum Leben gemacht
Mit diesen Worten zu beschwingter Schlagermelodie à la Roland Kaiser wache ich am Samstagmorgen auf. Ist das vielleicht der Hit, auf den die Welt wartet? Etwas anderes wird mir von den Geistern der Kunst nicht zugesteckt. Aber dieses Geschenk bekomme ich im Schlaf überreicht. Die Akkorde, die Melodie, die Worte, die Metrik, alles fertig, ein Present Surprise aus dem Schattenreich der Musen, eine synaptische Überreaktion mit überraschenden Blasen, ein Mülltrüffel à la Arte aus dem Nichts, meine Weltallergie erzeugt ungewollten Sinn. Es ist sehr aufmerksam, dass Ihr an mich gedacht habt, ich freue mich über Euer Mitbringsel, und ich möchte auch nicht unbescheiden wirken, nur: Was soll ich damit anfangen? Ich bin weder Sänger noch Komponist oder Schlagerproduzent. Einfach nur so? Tja, süß von Euch und recht schönen Dank auch. Ich notiere mir die Songskizze und beschließe, sie später zu verschenken. Es ahnt ja niemand, dass es ein gebrauchtes Geschenk ist. Ein weitergeschenktes Geschenk. Und wenn die Götter der Kunst mir deswegen das Vertrauen entziehen – auch kein Drama, denn mehr als solche Splitter habe ich von ihnen sowieso nicht zu erwarten. Sonderbar, wie die Talente verteilt werden. Während es Menschen gibt, denen die komplette Palette der künstlerischen Veranlagungen beim Start übergeben wurde und die auch dazu in der Lage sind, diese Veranlagungen eloquent einzusetzen, gibt es andere, die kein einziges Talent mit auf den Weg bekommen haben und die nicht mal die Gabe besitzen, dieses zu erkennen. Die manchmal ein Leben lang brauchen, um zu realisieren, dass bei ihnen einfach nichts gelandet ist. Kein Milligramm Talent. Die verzweifelt vor sich hin kritzeln und malen und kneten und dichten und schnitzen und filmen und komponieren und produzieren und die am Ende doch nur
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