Tag der geschlossenen Tür
adäquate Reaktion überlegen. Jetzt einfach nur wieder mit einem Joghurtspruch zu reagieren, wäre zu schwach. Sollte ich ihm meinen Müll vor die Tür kippen? Ihm in den Flur exkrementieren? Sollte ich ihm Versandhauskatalogdinge bestellen? Oder Pizzaboten und Taxis, die in zehnminütigem Abstand bei ihm klingeln würden? Ich könnte ihm auch einen Schläger auf den Hals schicken. Oder mehrere. Nach längerem Überlegen beschließe ich dann doch, mich beim Vermieter zu beschweren. Ich setze ein Beschwerdeschreiben auf, in dem ich den Vermieter vom Treiben des neuen Mieters in Kenntnis setze. Das sollte dem Spuk schnell ein Ende bereiten.
Am späten Nachmittag kehre ich von der Post zurück, wo ich den Brief eingeworfen habe. Im Treppenhaus komme ich mit einem leicht schlechten Gewissen an der »0002 todesnah«-Fahne meines unbekannten Feindes vorbei. Beim zweiten Blick fällt mir auf, dass dort »0002 toodesnaH« steht. Noch sonderbarer. Ist das Holländisch? Vielleicht messe ich mich auch mit dem Falschen? Vielleicht habe ich mich mit einem holländischen Sexmystiker eingelassen, der mir durch die Behandlung einer Ginsengwurzel mit glühenden Stricknadeln die Libido zerstören kann.
Es ist still hinter dem Vorhang. Kein Lufthauch bewegt den Stoff. Ich drücke ihn etwas mit dem Zeigefinger zur Seite. Es ist nicht wie beim letzten Mal der schwarze Flur zu sehen, sondern etwas Helles, Flächiges, leicht Haariges. Ich öffne den Spalt weiter und stelle anhand des erscheinenden Munds, der Nase und des Auges fest, dass es sich um ein Gesicht handeln muss. Langsam wird nun von innen der Vorhang zur Seite geschoben, und mein Nachbar, der Typ, den ich bereits nackt beobachten konnte, steht komplett angezogen vor mir und schaut mich emotionslos an. Innerhalb einer Sekunde umfahre ich mit einem Blick seine gesamte Gestalt. Er sieht abgenutzt aus. Wie ein wilder Geist aus einer anderen Zeit. Sein Tweedanzug weist mittelschwere Gebrauchsspuren auf, genau wie sein Körper und sein Gesicht. Die groben Hände sind schwielig, das Gesicht verwittert wie das einer Hafenstatue, die zu lange durch die Brandung in Richtung Meer gespäht hat. Alles an ihm scheint verledert, durch den harten Zugriff des Lebens, durch das Rangeln mit den Widerständen der Welt, durch eine Unachtsamkeit im Umgang mit bedrohlichen Situationen, so mutmaße ich. Er räuspert sich.
»Guten Tag. Mein Name ist Bob. Ich freue mich, Sie in meiner bescheidenen Behausung begrüßen zu dürfen. Möchten Sie eintreten?«
Ich bin perplex und weiß nicht, was ich erwidern soll. Um eine Antwort verlegen, betrete ich den Flur. Er reicht mir seine Hand und umfasst sie mit Nachdruck. Zwar ist er mir nach wie vor unsympathisch, aber der Händedruck überträgt eine eher positive Energie auf mich.
»Tja, guten Tag, mein Name ist Sonntag. Ich wohne zwei Stockwerke über Ihnen.«
»Ich weiß, ich weiß …«
Wir betreten das Wohnzimmer, das fast leer ist, bis auf das noble Sofa, einen großen alten Lehnstuhl, einen ausgestopften Fuchs und ein altes Revox-Tonbandgerät mit einem Verstärker und einer großen Box.
»Darf ich Ihnen etwas anbieten? Vielleicht einen Joghurt …«
»Ich mag keinen Joghurt«, lüge ich. Er setzt sich auf den Lehnstuhl und ich mich auf das Sofa. Wir beide mustern einander eine Weile, dann zündet er sich eine Zigarette an.
»Ich wohne jetzt hier, ich denke, das ist Ihnen schon aufgefallen. Es tut mir leid, wenn ich Sie gestört habe, ich hatte einen Moment die Welt um mich herum vergessen.«
»Das hat man gemerkt.«
»Haben Sie schon mal die Welt vergessen?«
»Ich versuche es hin und wieder, aber es gelingt mir meist nicht.«
»Wie schade für Sie, daran sollten Sie arbeiten. Das ist ein Moment der absoluten Erhabenheit. Es ist eine Rüstung gegen die Zeit.«
»Das ist interessant. Sie vergessen darin die Zeit?«
»Ich vergesse sie nicht, sie hört einfach auf zu sein. Ich trete in einen Moment der Zeitlosigkeit ein, und wenn ich zurückkehre, sind die Minuten vorangeschritten und die Uhren weitergewandert.«
Ich finde nicht, dass er besonders jung aussieht. Eher im Gegenteil.
»Jaja« – errät er meine Gedanken – »aber Sie wissen ja nicht, wie alt ich wirklich bin. Ich könnte immerhin schon über achtzig Jahre alt sein. Oder sogar hundert. Was wissen Sie schon?«
»Sie sind also über die Zeit erhaben?«
»Ich habe einen Pakt mit ihr, wenn Sie verstehen, was ich meine.«
»Keinesfalls.«
»Dann lohnt es auch nicht, es
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