Tag der geschlossenen Tür
freizusprechen!«
Sie winkt mir zu, und mir rinnt eine Träne über die Wange. Der Oberste Richter klopft mit dem Hammer auf den Tisch und erhebt hustend und räuspernd die Stimme.
»Wie Sie alle wissen: Unwissenheit schützt vor Strafe nicht! Ich akzeptiere keine schwachen Entschuldigungen. Und ich denke, wir müssen im Fall des Schlächters von Sankt Pauli nicht lange um die Fakten herumreden, die ungeheure Anzahl verletzter und getöteter Lebewesen spricht für sich und gegen ihn. Ich möchte das Verfahren an dieser Stelle beenden. Mein Urteil lautet: Schuldig! Schuldig! Schuldig! Schuldig daran, gedankenlos gehandelt zu haben. Schuldig daran, nicht über die Konsequenzen des eigenen Handelns nachgedacht zu haben. Schuldig daran, nachlässig mit dem Recht auf Leben aller Kreaturen umgegangen zu sein. Schuldig, freie Kreaturen zum eigenen Vorteil ausgebeutet, misshandelt oder getötet zu haben. Schuldig, Elend, Verletzung, Chaos und Tod gedankenlos erzeugt zu haben, um den eigenen perversen Lebensstil zu wahren. Schuldig, die Verantwortung abgeschoben zu haben – und zwar auf mich! Wie all die anderen Eurer missratenen Spezies! Schuldig! Schuldig! Schuldig! Das Urteil lautet: eine Million Jahre Bundeswehrdienst in Neumünster mit anschließender Sicherheitsverwahrung in Ochsenzoll bis zum Sankt-Nimmerleins-Tag!«
Keuchend wache ich auf. Was für ein Albtraum! Lange will er mir nicht aus dem Kopf gehen, ich spüre, dass man mich warnen will. Dass man mir eine Nachricht geschickt hat. Muss ich vielleicht doch alles anders machen? Sollte ich wirklich nicht mehr am Warenkreislauf teilnehmen, sondern mich von reinem Regenwasser und den Kadavern natürlich gestorbener Tiere ernähren? Gibt es eine Möglichkeit zu leben, ohne schuldig zu werden? Oder heißt leben schuldig sein? Mit dem Verlassen des Mutterleibes nehmen wir teil am großen Kreislauf der Schuld. An den Passionsspielen der Schuld. Spielen wir auf dem Jahrmarkt der Schuld. Tanzen wir auf dem Oktoberfest der Schuld, ach, was weiß ich denn! Es gibt kein Leben ohne das notwendige Böse.
Der Idiotensturm
E in Brief steckt im Briefkasten. Absender: Deutscher Taschenbuch Verlag. So ein Absender erzeugt zumindest bei mir eine sprunghaft gesteigerte Herzfrequenz. Vermutlich meine Ablehnung. Vielleicht doch etwas Persönliches? Höchstwahrscheinlich nicht. Noch im Treppenhaus öffne ich den Umschlag. Frau Knothe geht an mir vorbei. Ich grüße sie spontan einfach mal nicht. Sie hustet verschämt.
Sehr geehrter Herr Sonntag,
täglich erreichen uns E-Mails, Manuskripte, Exposés und andere Vorschläge für Buchveröffentlichungen, die wir aus rein verlagstechnischen Gründen nicht berücksichtigen können. Leider trifft dies auch auf Ihr Angebot zu, für das wir Ihnen hiermit ausdrücklich danken möchten. Unsere Entscheidung musste unabhängig vom Gegenstand Ihres Vorschlags erfolgen. Wir bitten daher um Verständnis, wenn wir von einer individuellen Beurteilung absehen, damit Sie möglichst bald anderweitig disponieren können.
Mit den besten Wünschen für die Suche nach einem geeigneten Verlag.
Mit freundlichen Grüßen
Andrea Gerster
Lektorat Belletristik dtv
Nur wieder eine Standardantwort. Ich kann es der armen Frau Gerster nicht verdenken. Jeden Tag hat sie mit einem Ansturm von Idioten zu tun, und sie hat den Verlag vor dem Ansturm der Idioten zu schützen. Auf den Verlagsmauern zu stehen und die angelegten Leitern mit den Idioten nach hinten zu stoßen. Und dabei aus der Idiotenflut noch die verwertbaren Idioten herauszulesen und sicher auf die Mauer zu ziehen. Trotzdem möchte ich nachsetzen. Möchte nicht locker lassen und Frau Gerster eine zweite Chance geben. Das würde auch meinen – trotz allem Verständnis vorhandenen – Rachegefühlen Linderung verschaffen. Ich setze einen Brief auf:
Sehr geehrte Frau Gerster,
vor Kurzem bot ich Ihnen das Manuskript zu meinem Roman » Immer Ärger mit Herr Berger « an. Fälschlicherweise haben Sie mir eine Ablehnung zugeschickt. Da ich mir vorstellen kann, dass Ihnen diese Situation sehr peinlich ist, will ich sie gar nicht weiter thematisieren. Vielleicht mögen Sie mir einfach schon mal einen Standardvertrag Ihres Verlages zuschicken? Oder sollten wir uns in den nächsten Tagen einmal treffen, um die Kampagne für mein Buch zu besprechen? Ich bin rein zufällig in Ihrer Stadt ganz in Ihrer Nähe. Wir können uns gerne auch bei Ihnen privat treffen, wenn es das für Sie
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