Tag der geschlossenen Tür
Sonnenstrahlen durch meine Seidenpapierfenster fallen, entsteht vor mir eine weite, lichtdurchflutete, herbstliche Landschaft. Dann bin ich auf der Suche nach den Worten zwischen all den Blättern. Verwelkten Worten, aus dem Zusammenhang gerissen, zu Boden gefallen und modernd. Mein Leben spult sich vor meinen Augen ab, aber keines der Bilder verweilt. Wo ist der Sinn in dieser Wanderung?
Ich lege mich auf den Holzfußboden unter meinem Arbeitstisch, in einen gelben Sonnenstrahl, der dort spitz zuläuft. Ich dämmere ein.
Sieben Frauen umgeben mich. Ich kenne sie schon lange, aber ich weiß nicht mehr, woher. Ihre Namen scheinen in mir auf. Ira, die Dunkle. Gula, die Volle. Superbia, die Schöne. Luxuria, die Brennende. Accidia, die Träge. Avaricia, die Dürre, und Invidia, die Grüne. Musik weht zwischen den Bäumen hindurch, ein Streichorchester spielt eine dunkle Melodie. Die Frauen umfangen und berühren mich, wir tanzen langsam im Kreis, ihre langen Haare streicheln meinen nackten Körper und bedecken mich. Ich weiß, ich habe schon immer unter diesen Frauen gelebt, sie sind meine Familie. Vier von ihnen liebe ich, drei sind mir zuwider. Ich mag Ira mit ihrem aufbrausenden Temperament, Gula, bei der das Fressen und das Saufen niemals aufhörten. Ich begehre Luxuria, die mich in einen unendlichen Strudel der Lust reißt, und verehre Accidia, die mich auf ihr träges Lager zieht. Die anderen drei machen mir Angst. Ein Leben mit Luxuria entspräche meiner Wahl. Aber ich lebe mit Accidia. Und immer wenn ich drauf und dran bin, Luxuria an die Hand zu nehmen und mit ihr die durchsichtige Treppe aus Eis zu erklimmen, die zum Firmament hinaufführt, packt mich Accidia bei der anderen Hand und zieht mich zurück. Zieht mich zu sich auf den Boden. Schließt mich in ihre Arme und wiegt mich so lange an ihrem Busen, bis ich erschöpft einschlafe. Ira und Luxuria, befreit mich aus meinem trägen Grab und nehmt mich mit auf die brennenden Flächen, um die Welt zu verändern oder in Lust zu verglühen! Accidia, lass mich endlich los, so schön Du bist und so sehr ich Dich liebte, ich kann nicht mehr bei Dir bleiben. Bitte lass mich gehen!
Eine genetische Hochzeit
A m Freitagabend um acht Uhr klingelt es. Wie alle
vier Wochen um die gleiche Zeit. Nora steht vor der Tür. Ich beobachte sie durch den Spion. Sie sieht ein wenig müde aus. Sie trägt einen dunkelbraunen Wollmantel, hohe, schwarze Lederstiefel, die Haare hat sie zum Pferdeschwanz gebunden. Ihr Blick bleibt unterhalb des Spions hängen. Wenn ich sie von hier aus beobachte, hebt sich in mir die Vorfreude. Dieses Gefühl der Sicherheit und Unausweichlichkeit, dass ich mit dieser attraktiven, mir fremden Person in wenigen Momenten eine sexuelle Begegnung haben werde. Aber ich spüre: Heute kann ich dieses Spiel nicht lange spielen. Sie sieht nicht danach aus. Ich öffne ihr die Tür. Sie hebt den Kopf und blickt mich an, dann tritt sie ein, schließt die Tür und zieht den feuchten Mantel aus. Ich hänge ihn an die Garderobe, feine Regentropfen benetzen meine Hände. Schließlich kommt sie auf mich zu und umarmt mich zur Begrüßung. Ich bin etwas perplex, das hat sie so noch nie getan, aber ich erwidere ihre Umarmung und genieße sie. Sie fühlt sich warm an. Komisch , denke ich, ich kenne diesen Körper viel besser als die Person darin. Ihr liebliches Parfüm steigt mir in die Nase, und ich sehe den dunklen Leberfleck unter ihrem Haaransatz am Nacken. Wir gehen in die Küche. Ohne mich zu fragen, setzt sie den Wasserkocher auf und macht uns einen Tee. Tee haben wir auch noch nicht zusammen getrunken.
»Was ist los mit dir, Nora? Geht’s dir nicht gut? Du wirkst so ungewohnt ernst.«
»Ich wollte was mit dir bereden.«
»Nur zu, worum geht’s denn?«
»Sonntag, hast recht, ich sollte direkt zur Sache kommen.«
»Ich bitte darum.«
Sie räuspert sich und blickt zu Boden.
»Ich bin HIV-positiv.«
»Du bist was?«
»Ich habe vor Kurzem einen Routinetest gemacht, und dabei kam raus: Ich bin HIV-positiv.«
»Was? Woher? Ich dachte, du hast immer geschützten Verkehr.«
»Hab ich eigentlich auch. Mir ist nur ganz selten mal ein Ausrutscher passiert. Wie mit dir, ganz am Anfang.«
»Soll das heißen, dass ich jetzt auch Aids habe?«
»Oder dass ich es von dir habe.«
Ich schweige. Mir fällt Maggie wieder ein. Hätte ich mich nicht schon längst testen lassen sollen? Habe ich unverantwortlich gehandelt? Habe ich noch weitere Personen
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