Tag der geschlossenen Tür
wieder reingehen, ihn in den Schwitzkasten nehmen und dann mit den Fingerknöcheln die Kopfhaut porbig reiben, bis er sich winselnd entschuldigt für sein respektloses Benehmen.
Aufgebracht renne ich vor der Eingangstür im Kreis herum, um meine Racheenergien zu kanalisieren. Eine schlanke, dunkel gekleidete Frau kommt auf mich zu, sie trägt eine Baskenmütze und flache Collegeschuhe. Als sie mich sieht, lächelt sie mich kurz und etwas verlegen an und betritt dann das Zeitungshaus. War sie das? Warum hat diese Frau mich angelächelt? Weil sie mich erkannt hat? Weil ich so eine dämliche Figur abgebe? Weil ihr der Typ, den sie in mir gesehen hat, gefiel? Genervt ziehe ich von dannen.
Move der Hölle
S amstagnachmittag in der Innenstadt. Menschenströme. Ein Gruselkabinett des Lebens. Ich hatte es schon ganz vergessen, aber eben kam mir ein Verdacht. Ist es womöglich wieder so weit? Oder warum laufen heute in der Innenstadt so viele Menschen mit bunten Perücken und Schlaghosen rum? Ist schon wieder der schlimme Tag? Einer der grausamsten Tage des Jahres? Ich kann es mir nicht anders erklären. Heute muss Schlagermove sein. Panik ergreift mich. Fluchtphantasien.
Wie all die anderen Städter bin ich dem ausgeliefert. Denn heute kommen eine halbe Million Menschen, um uns und sich selber fröhlich ihre entfesselte Idiotie vorzustellen. Es gibt viele Anlässe dazu hier in der Innenstadt Hamburgs. Aber dieser Anlass ist gewaltiger und gewalttätiger als die meisten anderen. Schlagermove. Seit fast fünfzehn Jahren gibt es dieses Festival des explodierenden Schwachsinns. Der finalen Debilität. Ausgetragen in unseren Straßen und auf unseren Nerven. Wo steht eigentlich geschrieben, dass derlei Veranstaltungen ausgerechnet in St. Pauli stattzufinden haben? Welches Gesetz bestimmt das? Wieso zieht der tumbe, gut gelaunte Idiotentreck nicht beispielsweise durch Norderstedt? Man könnte auch eine große Wiese in Schleswig-Holstein nehmen, einen Pflock in deren Mitte schlagen, und dann dürfte das Feiervolk dort einen Nachmittag lang besoffen und fröhlich winkend im Kreis herumlaufen. Der große Pflockmove von Henstedt-Ulzburg.
Leider passiert das nicht. Sie kommen zu uns und bematschen St. Pauli. Mit ihrer Musik, ihrem Müll, ihrem Urin, dem Sperma und den Exkrementen, die als Zeichen ihres Sieges zurückgelassen werden.
Könnte es nicht sein, dass der Schlagermove eine Verletzung des Grundgesetzes darstellt? Wenn die Würde des Menschen unantastbar ist, wieso darf ein derartiges Ereignis dann überhaupt stattfinden? Da ich das alles nicht verhindern kann, beschließe ich spontan, in diesem Jahr daran teilzunehmen. Ich rufe Hühner an und frage ihn, ob er Lust hätte, mit mir zum Schlagermove zu gehen. Das brauche ich ihn nicht zweimal zu fragen: Hühner hasst den Schlagermove aus tiefster Seele. Hühner hasst alles, was witzig ist. Obwohl er selber durchaus auch als witzig zu bezeichnen wäre. Was aus seinem Hass auf die Witzigkeit resultiert. Es gibt halt witzig und witzig.
Am frühen Nachmittag treffen wir uns in meiner Wohnung, um uns zu designen. Wir haben spontan beschlossen, als »psychedelische Nazizwerge« zu gehen. Wir tragen beide weite, weiße, kurze Kittelchen, die bis knapp über den Po reichen, haben uns Herzen auf die Wangen gemalt und die Lippen rot geschminkt. Dazu malen wir uns mit schwarzem Kajalstift einen Hitlerbart und den Hitlerscheitel an die Stirn. Auf dem Kopf tragen wir aus Pappe geformte Zaubererhüte, die mit Sternchen und Hakenkreuzen bemalt sind. Beide haben wir einen Zauberstab mit einem glitzernden Hakenkreuz an der Spitze, mit dem man put put machen kann. Jeder, den man mit dem Stab berührt, wird sofort zum Zaubernazi.
Wir sind hochzufrieden mit unserem Outfit, packen uns einen kleinen Rucksack mit ein paar Lebensmitteln und brechen auf zum Move. Der Move startet um 14 Uhr auf der Reeperbahn und bewegt sich von da aus zäh mäandernd durch St. Pauli. Mehr als vierzig Trucks, gesteckt voll mit den Witzigen der Republik, mit Schlümpfen und Heinos, mit Marianne Rosenbergs und Rex Gildos, mit Schlagerfeen und Pornogöttern, rollen die Hafenstraße herunter. Zigtausende Claqueure flankieren betrunken den Korso, um lautstark die jeweiligen Schlagerhits mitzugrölen. In den Fenstern der Häuser sieht man hinter den Scheiben die demoralisierten Gesichter der Anwohner, einige angewidert, andere haben längst alle Hoffnung fahren lassen und strahlen nur noch traurige Müdigkeit aus.
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