Tag der geschlossenen Tür
infiziert?
»Sonntag, du musst dich testen lassen. Geh zum Arzt und mach ’nen Aidstest, bitte.«
»Jaja, schon richtig, mach ich, mach ich.«
»Falls ich dich angesteckt habe, bin ich ewig schuldig an dir.«
»Oder ich an dir.«
»Verdammt, wie konnte das ausgerechnet mir passieren? Ich bin sonst wirklich vorsichtig.«
Sie sackt zusammen und beginnt leise zu weinen. Ich hab sie noch nie in so einer Verfassung gesehen, sonst war sie immer absolut selbstbeherrscht und von berauschender Oberflächlichkeit. Und wieso kommt sie zu mir, um sich fallen zu lassen? Hat sie niemanden, der ihr nähersteht? Was soll ich tun? Ich rücke mit dem Stuhl vor und nehme sie in die Arme. Langsam legt sie auch ihre Arme um mich und den Kopf an meine Schulter. Ich hab mich bisher nicht nach dieser Art von Nähe zu ihr gesehnt, aber jetzt genieße ich es. Ich beobachte die blonden Haare auf ihrer Wange ganz aus der Nähe. Dann streichle ich mit der Hand über ihren Rücken. Sie trägt keinen BH. Sofort verurteile ich diesen reflexhaften Gedanken. Mein Stammhirn scheint sie ganz und gar an die Kausalketten der Sexualität geschmiedet zu haben. Etwas anderes können die tiefen Schichten in mir mit ihr nicht assoziieren. Zum Glück beherberge ich noch andere Ebenen. Sie legt ihre Wange an meine, nass liegt ihre Haut auf meiner, kein Schweiß verbindet uns wie sonst, sondern ein Tränenfilm aus Salzwasser. Ich stehe auf und trage sie in meinen Armen zum Bett. Vorsichtig lege ich sie nieder. Ich lege mich neben sie und beobachte sie. Sie hat die Augen halb geöffnet und starrt auf eine Falte im Laken vor ihr. Das Salz ihrer Tränen klebt noch in ihren Wimpern. Jetzt, wo sie so ernst ist, fällt mir zum ersten Mal auf, wie schön sie eigentlich ist. Wie klar und streng sie aussieht. Und wie verehrenswert.
»Hast du eigentlich Familie?«
»Nein.«
»Keinen Freund, keinen Mann?«
»Nein. Ich mag keine Männer.«
»Kann ich verstehen. Aber warum bist du dann ausgerechnet bei mir?«
»Weil ich sonst heute auch immer bei dir war. Und weil das Problem unser Problem ist.«
Ich wage nicht, sie zu berühren, sondern schäme mich für die gedankenlose Lust, in die ich sie bisher getaucht habe. Sie spürt das.
»Ist schon okay. Ich hab mich nicht geekelt. Ich fand’s eher interessant. Es war alles wie ein großer Test. Wie eine wissenschaftliche Feldstudie.«
»Und die anderen Männer? Wie war es bei denen?«
»Ich hatte keine anderen Männer. Du warst mein Studienobjekt.«
»Ich dachte, du bist, äh … ich dachte, du wärest …«
»Eine Hure? Nur weil du mir Geld dafür gegeben hast?«
Sie lacht verschnupft in das Kissen.
»Ich war deine Privathure, und du warst mein Forschungsobjekt.«
»Und was hast du rausgefunden?«
»Das würde ich dir nie sagen. Das ist mein Kapital. Davon werde ich später leben. Wenn ich dann noch lebe.«
Ich merke, wie mich das Begehren durchkriecht, und verscheuche es erneut wie einen wilden Hund in einen Winkel des Waldes meines Unterbewusstseins. Ich beobachte sie, wie sie dort liegt, ruhig atmet und mich beobachtet. Das erste Mal, seit ich sie kenne, strahlt sie Wärme aus. Und in diesem Nichtberühren, in diesem stillen Betrachten zwischen uns, liegt mehr, als wir je gemeinsam hatten. Ich spüre so etwas wie Sympathie, ich fühle mich zu ihr hingezogen. Irgendwann schläft sie ein. Ich beobachte sie noch eine Weile, dann stehe ich leise auf und ziehe mir einen Mantel an. Ich verlasse die Wohnung und gehe im Regen spazieren.
Das Königreich der Ängstlichkeit
S amstagabend, Zeit für Durst. Schon beim Aufstehen wusste ich, dass heute der richtige Tag ist, um etwas trinken zu gehen. Manchmal schalten sich die Trinkwellen der Erde gleich, und Menschen mit geeignetem Sensorium spüren: Heute ist ein Tag zum Trinken. Man kann den ganzen Tag mit Vorbereitungen dafür verbringen. Das fängt mit der richtigen Ernährung an, um die Magenwände mit einem alkoholabweisenden Fettfilm zu versehen, setzt sich fort in Badungen und Ölungen, wird unterbrochen durch das Inhalieren geeigneter Trinkerliteratur und mündet schließlich im Aufzurren des Festkarrens, will sagen: im Herrichten der eigenen Gestalt mit geeigneter Frisur und vor allem Bekleidung. Die ganze Zeit über steigt der Durst, und all das ist auch nur dafür da, um den Durst zu steigern. Trotzdem sollte man währenddessen viel Wasser und auch Tees zu sich nehmen, um nicht zu früh an einem rein anatomischen Durst zu zerschellen,
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