Tag der geschlossenen Tür
auf.
»Hallo, Nachbar. Lust auf ein Glas Wasser?«
»Vielen Dank, aber ich habe eine Wasserallergie.«
»Is auch gar kein Wasser. Ist Baileys mit ’nem Schuss Mescal. Topmischung.«
»Klingt abstoßend.«
»Wie’s klingt, ist egal. Wie’s schmeckt, ist egal.«
»Und was ist dann nicht egal?«
»Wie’s wirkt! Haben Sie ’nen Regenschirm? Dann könnten wir zwei ’n bisschen spazieren gehen.«
Ich wüsste nicht, warum ich mit dem Spinner spazieren gehen sollte: »Ich möchte bei diesem Wetter lieber in der Wohnung bleiben …«
»Nun kommen Sie schon, stellen Sie sich nicht so an …«
Er schaut mich mit festem Blick an, dem ich entnehmen kann, dass er mir keine Alternative lassen wird. Ich verschwinde im Flur, greife mir eine Jacke und den großen Regenschirm, schließe die Wohnungstür und gehe mit ihm nach unten.
»Also, wohin gehen wir denn nun, bei dem Mistwetter?«
»Weiß nicht, einfach mal schauen. Ich mag den Regen, er setzt die Leute immer so unter Druck.«
»Was ist denn daran schön?«
»Dass sie ungewohnt reagieren. Und dass sie anders aussehen. Sie können sich nicht normal verhalten. Sie sehen aus wie nervöse Wasserleichen.«
Wir gehen die Straße entlang, ich habe den Schirm aufgespannt, er könnte uns beide aufnehmen, aber Bob geht neben ihm im Regen. Menschen rennen an uns vorbei und bleiben unter Dachvorsprüngen stehen, eine Frau steht mit ihrem Kinderwagen an der Straße, ein vorbeifahrender BMW besudelt sie mit einer Flut von dreckigem Pfützenwasser, das an ihrer Kleidung, ihrem Gesicht, ihren Haaren herunter und in den Kinderwagen läuft, sie schreit dem Fahrer hasserfüllt und spuckend hinterher, das Baby kreischt gurgelnd und hustend, die Ampeln sind ausgefallen, und im Rinnstein haben sich gluckernde Strudel über den Kanaleingängen gebildet. Das finale Inferno scheint nicht mehr fern. Bob ist vollkommen entspannt, die grauen Haare fließen in Bächen um sein Gesicht und am Hals herunter in seinen Tweedanzug hinein. Er scheint die Situation tatsächlich zu genießen.
Auf einem Platz steht in der Mitte eines kleinen Rasens eine Trauerweide mit einem pilsförmigen Dach, unter das wir kriechen. Die hängenden Zweige lenken das Wasser wie in einem faradayschen Käfig um uns herum, hier drinnen ist es tatsächlich nahezu trocken. Wir setzen uns am Baumstamm auf den Regenschirm, Bob öffnet die Flasche und gießt uns ein, er reicht mir ein Glas. Nachdem wir angestoßen haben, trinken wir, es schmeckt süßlich-spritig, aber erheiternd. Er zündet uns zwei Zigaretten an, YSL.
»Und? Gut, oder?«
»Was?«
»Na, der Platz. Und der Regen. Und das Getränk.«
Ich kann nicht anders, ich muss es zugeben. Es ist gut, der Platz, der Regen und das Getränk. Wir sehen, wie auf der Straße an der Kreuzung ein Fahrer den Bremsweg an der Ampel unterschätzt hat und sich blechern in seinen Vordermann bohrt. Die beiden Fahrzeugbesitzer springen aus ihren Autos und beginnen unvermittelt, aufeinander einzuschlagen.
Bob grinst mich an:
»Sehen Sie? So sind sie, wenn es regnet.«
»Ja, stimmt, jetzt verstehe ich, was Sie meinen.«
»Na, und wenn’s nur lang genug regnen würde, dann würden sie sich alle gegenseitig um die Ecke bringen, und der Regen würde sie hinwegspülen.«
»Nihilist.«
»Ich bin kein Nihilist. Ich liebe das Leben. Ich liebe die Welt. Es gibt bloß zu viele von uns. Das macht uns so aggressiv.«
»Kann sein. Aber es gibt uns nun mal.«
»Ich weine keinem von uns nach, der geht. Ich sehe auch keinen Unterschied im Wert eines von uns und dem Wert einer Ratte oder eines Zebras oder einer Kellerassel. Wir sind alle gleich viel wert: nichts. Es gibt keinen Wert des Lebens.«
»Moment, das Lebendige ist doch wohl mehr wert als das Unlebendige.«
»Vor wem? Wer definiert Wert? Und was ist Wert? Was ist der Unterschied zwischen einer Maus und einem Diamanten? Wer ist mehr wert?«
»Die Maus natürlich.«
»Ich fürchte, da sind Sie unter den menschlichen Erwachsenen mit Ihrer Sicht ganz allein auf weiter Flur.«
»Die Frage ist ungerechtfertigt.«
»Es gibt keine ungerechtfertigten Fragen. Und es gibt keinen Wert.«
»Was gibt es dann? Wenn alles gleich ist und unterschiedslos.«
»Es gibt die Liebe und das Mitgefühl. Die Selbstlosigkeit erhebt uns über den eigenen Vorteil und die pure Kälte des Seins.«
Wir trinken in kleinen Schlucken zwischen den Sätzen. Und ich muss zugeben – die Wirkung lässt sich sehen, die Wirkung ist unterschliffig,
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