Tag der geschlossenen Tür
tiefgründig, breitwandig und irgendwann berauschend. Wir rauchen, trinken und reden, und es stellt sich, ohne dass ich es wollte, etwas zwischen uns ein, das ich mit nichts anderem als Sympathie bezeichnen kann.
»Bob, ehrlich gesagt, ich hab’s nicht gewollt, aber Sie gefallen mir.«
»Vielen Dank, das war mir klar.«
»Aber ein Angeber sind Sie, das müssen Sie zugeben.«
»Na klar. Nichts kann ich besser als das. Das ist mein Beruf: Angeberei.«
»Und davon kann man leben?«
»Mehr als das. Damit halte ich den ganzen Betrieb am Laufen.«
»Welchen Betrieb?«
»Sonntag, wie schade, die Flasche ist alle.«
»Oh. Wie ärgerlich.«
Der letzte Tropfen rinnt aus der Flasche in Bobs Glas, und er trinkt es mit einer kurzen Bewegung aus. In diesem Moment hört der Regen plötzlich auf, und für einen kurzen Moment strahlt die Sonne zwischen den Wolken hindurch.
»Sonntag, ich muss los, ich hoffe, Sie sehen es mir nach.«
»Tja. Ein plötzlicher Aufbruch. Aber wenn’s nicht anders geht.«
Ich bin etwas überrumpelt. Wir verabschieden uns kurz, aber herzlich per Handschlag, und Bob geht forschen Schrittes davon. Ich bleibe allein und berauscht unter der Weide sitzen, wartend und schauend, die Sonne hüllt alles in einen kristallenen Glanz, bricht sich in den flüssigen Oberflächen, die die Welt umschlossen halten, und langsam beginnen die Tropfen durch das Blätterdach zu dringen, um mich schließlich doch noch zu durchnässen.
Frühe Liebe
I ch habe beschlossen, am kommenden Wochenende Großmutter Anni zu besuchen. Sie ist vor zwei Jahren in ein Altenpflegeheim in der Nähe von Cloppenburg gezogen, das Seniorenzentrum Garrel, Haus Elisabeth. Es ging einfach nicht mehr – wie Mutter immer wieder stöhnte. Es ging einfach nicht mehr. Sie ist doch schon so tüterig, wenn die dann mal die Treppe runtergefallen wäre, ich wäre des Lebens nicht mehr froh geworden. So wird anstelle von Mutter Großmutter Anni des Lebens nicht mehr froh. Sie hat mit ihren Kindern abgeschlossen. Wer so einen Verrat begeht, die eigene Mutter zu verstoßen, mit dem wird kein Wort mehr gesprochen. So was hätte es früher nie gegeben. Ihre Kinder fühlen sich schuldig. Schuldig daran, sie fallen gelassen zu haben. Sie ausgeliefert zu haben in die Hände der Servicesklaven vom Haus Elisabeth. Mit denen wird auch nicht geredet. Wozu auch? Diese Menschen sind Monster aus der Zukunft. Monster, die Großmutter Anni nicht verstehen können, keine Ohren für ihre Sprache, kein Sensorium für ihre Zeit haben. Für die Zeit, aus der Großmutter lebt. Die sie bei sich trägt. Die sie ist. Sie besteht aus gelebter Zeit. Sie schleppt einen großen Vorrat, einen Sack voll alter, abgelebter Zeit mit sich herum, die sie in die Gegenwart und in die Zukunft zerren möchte. Wenn wir miteinander sprechen, ist mir immer so, als würden wir durch einen Tunnel miteinander reden. Sie von früher zu mir im Heute. Und manchmal, ganz selten, wenn wir tiefer gehen und uns wirklich verstehen, dann bricht dieser Tunnel weg, und wir sind in der gleichen Zeit, im gleichen Augenblick, irgendwo im Hier und Jetzt. Wenn es das überhaupt gibt. Das sind die schönsten Momente zwischen uns. Denn eigentlich sind wir uns ähnlich. Nur dass ich vor dem Berg stehe und sie dahinter.
Dieses Mal werde ich nicht bei den Eltern vorbeifahren. Das wäre wie ein Verrat an Großmutter. Also fahre ich am Sonntag mit der Bahn nach Cloppenburg und dann, nach ewiger Wartezeit am ZOB, mit einem Bus nach Garrel. Das Seniorenheim sieht von außen zum Fürchten aus. Wie fast alle Seniorenheime. Eine architektonische Ohrfeige mitten ins Gesicht der pensionierten Bewohner. Hauptsache, ein Dach auf dem Kopf. Hauptsache, was zu essen auf dem Tisch. Hauptsache, sauber und warm. Der Rest ergibt sich. Das Haus Elisabeth ist eine Art offener Vollzug. Vor der Eingangstür sitzen drei alte Männer und rauchen. Keiner spricht ein Wort, sie starren aus matten Augen auf das graue Pflaster unter ihren Filzpantoffeln. Als ich sie begrüße, antwortet der Mittlere mit tonloser Stimme: »Na ja …«
Ich betrete das Haus und laufe auf der Suche nach einem Ansprechpartner durch den Eingangsflur. Wo finde ich Großmutter Anni? Ein paar Zimmertüren stehen offen, Reinigungspersonal putzt die Räume, es riecht nach Urin und nach Alter. Am Ende des Flurs liegt ein Aufenthaltsraum. Vor dem zentralen Fenster sitzen fünf alte Menschen, drei Männer auf Stühlen, zwei Frauen in Rollsesseln. Jemand hat sie
Weitere Kostenlose Bücher