Tag der geschlossenen Tür
Oma.«
»Aber geliebt habe ich einen anderen.«
»Oma! Wie meinst du das, einen anderen?«
»Weißt du, Michael, das Leben spielt ein sonderbares Spiel mit uns. Als ich noch ganz jung war, vielleicht vierzehn Jahre, das saß ich jeden Morgen vor unserem Hof an der Straße und habe gewartet, dass der Pferdewagen vorbeikommt und mich zur Schule mitnimmt. Damals war die Straße noch gar nicht geteert, sondern holprig und staubig. Und ich saß dort gegenüber vom Hofeingang und habe gewartet. Das war vielleicht 1930.«
Ich erinnere mich an den Hofeingang, vor dem ich selber als Kind gespielt hatte, wenn ich bei Oma zu Besuch war. Wir haben in diesem Augenblick das gleiche vergilbte, schöne Bild aus unserer viele Jahre auseinanderliegenden Kindheit im Kopf.
»Ich erinnere mich, Oma.«
»Und jeden Morgen, bevor der Pferdewagen kam, fuhr dort der Milchwagen bei uns vorbei. Der Milchkutscher trabte die Höfe ab, und sein Junge sprang runter und lud die Kannen auf. Er war so alt wie ich. Ich wusste, dass er Friedrich hieß, und für ihn kämmte ich mich jeden Morgen ganz besonders schön. Er war so stark und geschmeidig und hatte so ein schönes Lachen und grinste mich immer ganz schüchtern an. Wenn der Milchkutscher krank war, kam Friedrich auch alleine vorbei. Dann half ich ihm beim Aufladen. Und manchmal kam er auch am Nachmittag bei uns vorbei, dann setzten wir uns an den Straßenrand und unterhielten uns.«
»Worüber denn, Oma?«
»Ach, über alles, man konnte mit ihm über alles reden, über die Tiere, das Wetter, über Musik, er war so ein lustiger Junge. Eines Tages, als er alleine kam und ich wusste, dass Mutter und Vater auf dem Feld sind, da haben wir uns geküsst, im Korn. Nur einmal, aber danach war’s passiert.«
»Oma!«
»Ich hatte mich Hals über Kopf in ihn verliebt. Und er sich auch in mich. Jeden Tag warteten wir ganz ungeduldig darauf, uns endlich sehen zu können, aber wir waren nicht wieder alleine.«
»Und dann?«
»Ein halbes Jahr später ist sein Vater mit ihm weggezogen, stell dir das mal vor! Irgendwo in den Süden. Ich hab die Adresse nicht rausbekommen, und Telefone gab es ja auch noch nicht. Ich war so unglücklich! Ich habe ihn dann nicht wiedergesehen.«
»Und Opa?«
»Opa kam danach. Ein paar Jahre später. Er war der Beste. Aber ich habe ihn nie so geliebt wie den Jungen vom Milchwagen.«
»Das ist eine traurige Geschichte.«
»Ja, aber sie ist noch nicht zu Ende.«
»Dann bitte erzähl weiter, Oma.«
»Vor ein paar Jahren, nach Opas Tod, als ich noch richtig laufen konnte, da war ich mal in Dänemark im Urlaub. Ich lief durch einen großen Park in Kopenhagen, ganz alleine, auf einer schnurgeraden Allee, zwischen großen, alten Bäumen. Und am Ende der Allee kam mir ein Mann entgegen. Ich hab ihn nicht beachtet und er mich auch nicht, aber als wir uns näher kamen, haben wir uns beide angeschaut, und ich wusste nicht sofort, wo ich ihn einsortieren sollte, und schaute immer wieder zu ihm hin und er zu mir. Wir kamen uns immer näher, und dann wusste ich auf einmal: Das ist er, Friedrich, der Junge vom Milchwagen, meine große Liebe. Und auch er hat mich erkannt, ich bin mir sicher. Aber wir wagten nicht, uns anzusprechen, und gingen weiter aufeinander zu und dann aneinander vorbei.«
»Und dann, Oma – und dann?«
»Ich ging weiter und wusste nicht, was ich tun sollte. Nach all den Jahren – ich konnte ihn nicht einfach so ansprechen. Ich war ja auch schon alt, und er war es auch. Ich habe mich noch einmal zu ihm umgedreht und er sich auch zu mir. Er hat kurz gelächelt, so wie er früher gelächelt hat, aber dann sind wir beide weitergegangen.«
»Aber warum? Warum habt ihr euch nicht angesprochen?«
»Ich weiß es nicht. Es war wohl zu spät. Wir hatten uns verpasst.«
Großmutter Anni schaut mit großen, alten Augen in die Krone der Eiche über uns, und ich sehe das ganze Leben in ihrem Blick, all die Traurigkeit, all die Ergebenheit und die Verwunderung über die Pfade des Schicksals. Ich weiß nicht, was ich erwidern soll, weil mir ein Kloß im Hals sitzt und mir keine Worte mehr einfallen. Was sollte ich auch sagen, schließlich bin ich doch das Erzeugnis dieser verwirrten Pfade und Omas Schicksalstreue.
»Oma, ich mag dich gerne. Ich glaube, du hast alles richtig gemacht. Du konntest dich ja gar nicht anders entscheiden.«
»Vielleicht, mein Junge, wer weiß? Wer weiß das schon? Und nun bring mich bitte zurück. Mir wird kalt, und gleich gibt es
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