Tag der geschlossenen Tür
Reflexe durchwehen mich, restgeladene Erwartungen blitzen auf, das Signet ihrer Äußerlichkeit war für mein Stammhirn immer ein Zeichen heraufziehender Freude. Sie blickt direkt in den Spion. Ich öffne die Tür, und wir umarmen uns zur Begrüßung, kurz, aber herzlich. Ich bitte sie ins Wohnzimmer, räume die Zeitungen weg und beeile mich in der Küche, einen Tee anzuschmeißen. Dann setze ich mich zu ihr an den Tisch. Hoffentlich bleibt Bob weiter im Bad.
Sie lächelt mich an: »Tja, Sonntag, jetzt wär’s eigentlich wieder so weit, oder?«
»Ja, das stimmt … jetzt wäre es eigentlich wieder so weit.«
»Und, vermisst du unsere Begegnungen?«
»Ehrlich gesagt – ja. Ich treffe mich ja sonst sehr selten mit Frauen und schon gar nicht, um mit ihnen ins Bett zu gehen.«
»Ihr Männer habt’s schon schwer …«
Sie nimmt ihren Tee und geht zum Fenster, legt ihre Stirn an die Scheibe.
»Was das angeht – ja. Wir haben zu viel Lust mit auf den Weg bekommen. Dieser verdammte Zeugungsauftrag.«
»Hör zu, ich habe mir über unsere Beziehung Gedanken gemacht. Ich werde nicht mehr mit fremden Männern ins Bett gehen. Ich kann diese Schuld nicht weitergeben. Aber mit dir ginge das, falls wir beide krank sind. Ich könnte also weiter für dich da sein.«
»Nora, das überrascht mich jetzt ein wenig.«
»Was ich wissen möchte: Warst du beim Arzt?«
»Ehrlich gesagt – nein. Ich hatte bis jetzt keinen Grund, da ich keine weiteren Geschlechtspartner habe. Und selber will ich es gar nicht unbedingt wissen.«
»Aber ich will es wissen. Ich will wissen, ob ich dich angesteckt habe oder du mich.«
»Das könnten wir sowieso nicht mehr herausfinden, es steht ja nicht drauf auf den Viren, in wem sie zuerst waren.«
»Aber wenn du es nicht hast, dann kann ich es nicht von dir haben. Ich muss es also trotzdem wissen.«
Auf einmal steht Bob nackt im Raum, seine nassen Haare hängen ihm ins Gesicht, die aufgeweichten Hände sehen aus wie zu große Gummihandschuhe. Er mustert Nora eine Weile stumpf, dann blickt er mich an.
»Was ist, Sonntag, kommst du jetzt endlich in die Wanne?«
»Wie bitte?«
»Ob du endlich in die Wanne kommst, ich warte schon, du geiles Ferkel.«
Nora sieht ihn irritiert an. Sie blickt zwischen uns hin und her. In ihrem Kopf bilden sich synaptische Verbindungen.
»Sonntag, das hättest du mir sagen sollen, das ahne ich ja nicht. Da penn ich jahrelang mit einem Pseudo-Hetero.«
»Moment, was soll das alles? Ich bin nicht Pseudo, und ich komm auch nicht in die Wanne!«
Nora hat sich erhoben und hängt sich ihre Handtasche um.
»Erzähl mir nichts. Geh endlich zum Arzt! Und erzähl deinem süßen Badefreund, was mit dir los ist. Oder hast du’s von ihm?«
»Nora …«
»Mach’s gut, Sonntag …«
Sie wirft mir ein kühles Küsschen zu und verlässt zügig die Wohnung.
Bob hat sich ein Handtuch auf den Kopf geworfen, sodass man sein Gesicht nicht sehen kann, vorne zwischen den Frotteefalten ragt eine brennende Zigarette heraus. Als ich auf ihn zutrete, winkt er ab: »Erzähl mir nichts von dem Zeug, zu langweilig …«
Er lässt sich nass, wie er ist, aufs Sofa fallen, wirft das Handtuch weg, schließt die Augen und schläft ein. Ich überlege einen Augenblick, ob ich ihn aus dem Fenster schmeißen soll, verwerfe die Idee aber, weil er mit Sicherheit kurz danach wieder vor der Tür stehen würde.
Leichen pflasterten ihren Weg
Hamburg, die dynamische Elbmetropole, bleibt sportlich. Das zeigt sich wie bei diversen anderen sportlichen Großveranstaltungen vor allem beim Marathon.
Am » Hanse Möbel Kraft Marathon « nahmen in diesem Jahr über 25 000 Menschen teil. Etwa achthundert der Teilnehmer waren normale Lebende, der Großteil der Läufer rekrutierte sich aktuell allerdings aus bereits Verstorbenen, die von Freunden und Familienangehörigen aus Hamburg und dem weiteren Umland herbeitransportiert wurden. Ebenso aus anderen Bundesländern und sogar aus dem Ausland gab es Leichentransporte, die in den meisten Fällen über den Hamburger Sportbund abgewickelt wurden. Dadurch, dass die lebenden Läufer in einem körperlich eindeutig besseren Zustand antraten und sich daraus ein sportlicher Vorteil hätte ergeben können, wurde den Toten erstmals gestattet, mit Unterstützung und Hilfsmitteln an den Start zu gehen. Viele Leichen waren von ihren Angehörigen auf Rollstühle oder Fahrräder gebunden worden und wurden Richtung Ziel geschoben. Auf der Strecke kam es immer
Weitere Kostenlose Bücher