Tag der geschlossenen Tür
wieder kommt.«
»Ich beneide dich darum, Bob, aber ich kann das nicht, ich bin anders gebaut.«
»Ich weiß. Trotzdem hält dich hier nichts.«
»Nein, aber auch nirgendwo sonst. Ich bin haltlos. Ich gehöre nicht auf diesen Planeten. Ich bin der Beobachter. Man hat mich hier ausgesetzt und versprochen, mich bald wieder abzuholen, ich sollte nur ein paar Jahre meine wissenschaftlichen Beobachtungen durchführen. Aber dann haben sie mich hier vergessen, und seitdem sitze ich hier fest. Es ist zum Kotzen …«
Bob schaut mich mit einem merkwürdigen Grinsen aus den Augenwinkeln an: »Ach, du gehörst auch zu denen. Hab schon mehrere von eurer Truppe getroffen. Warum tut ihr euch nicht zusammen?«
»Weil ich die anderen nicht kenne.«
»Ich hatte mal ’nen Freund, der wohnte in ’nem Vorort von Hamburg, da, wo nur noch Kästen aus tristem roten Klinker stehen und wo keiner mehr anhält, wo alle nur noch durchfahren. Eines Tages hat er sich seine eigene Bushaltestelle gebaut, direkt an der Straße. Mit Dach und Bank und Haltestellenzeichen und allem Drum und Dran. Einmal hat auch ein Bus gehalten, aber mein Freund wollte nicht mit, weil der Bus in eine öde Richtung gefahren ist. Er wollte lieber in seiner eigenen Bushaltestelle sitzen und warten.«
»Ein absolut sympathischer Mann.«
»Ja. Er hat da noch lange gesessen. Ein paar Jugendliche haben ihn später totgehauen. In seiner eigenen Bushaltestelle. Dann kam ein Leichenwagen und hat ihn abgeholt. Aus seiner eigenen Bushaltestelle. Das hätte ihm gefallen. Er ist dann auch anstandslos mitgefahren. Danach wurde die Bushaltestelle abgerissen. Und alles war wieder wie immer.«
Wir beide folgen wieder der Trompetenmelodie. Bob zündet sich eine Zigarette an. Ich nehme mir auch eine. Eine Kirchenglocke mischt sich unter die Klänge der Trompete.
Bob blickt vergrätzt auf den Kirchturm:
»Mit zwanzig fragst du nach einem Sinn. Mit dreißig kämpfst du um einen Sinn. Und mit vierzig bist du befreit vom Glauben an den Sinn. Endlich befreit von der Hoffnung. Was für eine Last da von dir fällt. Es sei denn, du bist religiös, aber dann bist du ja eh verloren …«
»Zumindest gibt Religion vielen Leuten ein Maß an Ruhe.«
»Natürlich. Die glücklichen Sklaven sind die erbittertsten Feinde der Freiheit. Religion und Ideologie sind die Fesseln des Übels. Sie nehmen dir deine Verantwortung ab. Wenn du von ihnen befreit bist, kannst du offenen Auges und mit Liebe im Herzen ins Nichts gehen. Es gehört Mut zur Wahrheit!«
»Hast du nie an Gott geglaubt?«
»Doch, doch. So wie jeder. Am Anfang nageln sie uns alle an das gleiche Kreuz, und erst später kommen einige von uns wieder davon los.«
»Und wie bist du davon losgekommen?«
»Durch einen Beweis.«
»Wie funktioniert der?«
»Ganz einfach …«
Er streckt die Hände aus und konzentriert sich. Seine Augen werden schmal, er starrt auf seine Fingerspitzen, dann flüstert er: »Wenn es Gott gibt, soll der Blitz sofort in meine linke Hand einschlagen …«
Es ist einen Moment still, wir beobachten beide seine Hände, plötzlich kracht es, und ein Blitz schlägt aus dem Nichts in Bobs rechte Hand ein. In seine rechte! Ein dunkler Fleck bleibt darauf zurück, etwas Qualm steht in der Luft. Er schaut mich an, ich starre auf seine Hand, dann auf sein Gesicht. Ich bin fassungslos, finde keine Erklärung. Er grinst, dann fangen wir beide an zu lachen, erst leise, dann immer lauter, fallen aufs Sofa und können uns nicht mehr halten.
Reflexe vergangener Freuden
A m Freitagabend um acht Uhr klingelt es. Ich bin mit niemandem verabredet, sitze allein im Wohnzimmer, lese alte Tageszeitungen und trinke Bier. Bob liegt seit drei Stunden in der Badewanne. Als ich ihm zwischendurch eine Dose hineinreiche, sehe ich, dass ihm seine Haut im heißen Wasser mittlerweile zwei Nummern zu groß geworden ist, zumindest an den Händen und Füßen. Ungesunder Reinlichkeitswahn. Wer mag jetzt bei mir klingeln? Ich schleiche zum Spion. Zu meiner Überraschung steht draußen Nora. Ich hatte sie ganz vergessen. Hatte unseren festen Termin verdrängt. Unseren Freitagstermin. Augenscheinlich habe ich sie mit der Verkündung ihrer Krankheit aus meinem Bewusstsein geschoben. Beschämend für uns beide. Sie sieht gut aus, sehr ernst, schlank, selbstsicher. Sie trägt keine aufreizende Kleidung, sieht eher seriös aus, bekleidet mit einem dunkelroten Rock und einer schwarzen Bluse, die Haare sind zum Zopf gebunden. Sexuelle
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