Tag der geschlossenen Tür
wieder zu Sportunfällen, weil lebende Läufer über die abgefallenen Gliedmaßen der Toten stolperten und sich zum Teil schwer verletzten. Zwei Männer und eine Frau kamen dabei ums Leben, konnten aber glücklicherweise mit der Hilfe ihrer lebenden Verwandten weiterhin im Rennen bleiben. Belastend für die lebenden Läufer und das Publikum war der starke Verwesungsgeruch auf der Laufstrecke, viele der Zuschauer hielten sich die Nasen zu, Kindern wurden von ihren Eltern die Augen verdeckt. Das tat der Stimmung an diesem herrlichen Frühlingstag glücklicherweise keinen Abbruch, Hunderttausende waren gekommen, um ihren » Lieblingssportlern « die Ehre zu erweisen. Wie zu erwarten, ging der Sieg an drei Lebende, zwei schwarze Läufer aus Ghana und einen Hamburger, sie konnten sich einige Kilometer vom Tross der Toten absetzen. Auch wenn im Nachhinein und mit unfreiwilliger Ironie von » Schiebung « aus den Reihen der Trauerfamilien die Rede war, kann man den diesjährigen » Hanse Möbel Kraft Marathon « dennoch als vollen Erfolg verbuchen.
Eine klare, geschlossene Kolumne, ohne Schnörkel, mit inhaltlich gerader Linie, wie ich finde. Ich bin rundum zufrieden und schicke sie sofort nach Fertigstellung per Mail ab. Ich freue mich auf Susannes Reaktion. Diesmal muss ich nicht lange auf sie warten. Bereits nach einer Stunde erklingt mein Nachrichtensignal.
Lieber Sonntag,
entschuldige, dass ich mich jetzt erst melde, bei mir ging’s grad drunter und drüber. Habe Deine Kolumne erhalten und finde sie recht gut.
Ja, und treffen würde ich Dich auch gerne. Mir gefällt die Idee mit dem Wartezimmer. Lass uns doch morgen um 17 Uhr in der von Dir beschriebenen Praxis treffen. Wir können ja beide an der Rezeption sagen, dass wir Husten haben. Bringst Du was zu trinken mit?
Ich freu mich – Susanne
Endlich werde ich sie treffen. Sie freut sich darauf. Da muss auf jeden Fall mehr sein als ein profanes menschliches Interesse.
Bob ist nicht anwesend, ich schmeiße die Stereoanlage an, lege einen Morricone-Walzer auf und tanze allein durch die Wohnung. Immer wenn ich am Bild von Orson Welles vorbeikomme, erhebe ich die Faust zum Gruße. Ich öffne die Fenster und lasse die Noten aus der Wohnung fliegen wie gefangene Tauben. Von unten bollert es gegen den Fußboden.
Darauf kann ich heute leider keine Rücksicht nehmen. Am Fenster lacht mir von der Straße eine ältere Frau im Regen zu. Manchmal, für einen kurzen Moment, scheint alles okay zu sein.
Am nächsten Nachmittag laufe ich bereits um 16 Uhr in der Großen Bergstraße vor der Praxis Schinkel & Bock auf und ab. Bin zu aufgeregt, um noch zu Hause warten zu können. Wie soll ich mich bloß verhalten, wenn sie kommt? Worüber könnten wir reden? Was, wenn sie doch nur ein rein menschliches Interesse an mir hat? Oder ich an ihr, weil sie mir gar nicht so gut gefällt, wie ich hoffe. Sollte ich das Bier, das ich in meiner Aktentasche habe, jetzt schon trinken? Auf keinen Fall. Ich habe mir einen Anzug angezogen und meine Haare gewaschen und ordentlich gescheitelt. Ich trage eine Hornsonnenbrille. In meiner Tasche habe ich sechs Dosen Bier. Ich versuche mich abzulenken, indem ich in einem Türkenladen die Regale entlangflaniere. Sie haben dort ein Feuerzeug in World-Trade-Center-Form. Wenn man auf einen Knopf drückt, kommt die Flamme aus dem Loch, das der eine der beiden Jets bei der Explosion gerissen hat. Was für Touristen sollen das denn kaufen? Taliban auf Alsterurlaub?
Um kurz vor fünf betrete ich die Praxis Schinkel & Bock. Ich hoffe, dass sie noch nicht da ist. Vor mich hin hustend, stelle ich mich an den Empfangstresen und gebe meine Daten an. Dann schlurfe ich ins Wartezimmer. Es ist relativ voll, ich blicke in lauter mir fremde Gesichter, werfe einen genuschelten Gruß in die Runde der Leidenden. Leider gibt es keine zwei freien Stühle, die nebeneinanderstehen, ich setze mich. Mein Puls schlägt heftig, ich schnappe mir eine Zeitung und blättere darin, um mich abzulenken. Nach einigen Minuten betritt ein weiterer Patient die Praxis, ich höre eine Frauenstimme vom Eingang, die Tür des Wartezimmers öffnet sich. Dort steht sie, Susanne, steht dort und schaut in die Runde. Ist bekleidet mit einem roten Rock, einer braunen Strumpfhose und einem braunen Hemd mit Schulterklappen. Sie trägt eine rote Pudelmütze, unter der ihr schulterlanges Haar hervorquillt. Als Begrüßung hustet sie schüchtern in die Runde. Sie schaut mich kurz an,
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