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Tag vor einem Jahr

Titel: Tag vor einem Jahr Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: C Geraghty
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Windungen des Telefonkabels. Caroline rief mich nur selten im Büro an.
    »Was ist los?«, fragte ich und kreuzte dabei Daumen und Zehen, eine Angewohnheit, die mir noch aus meiner Kindheit geblieben ist.
    »Ich rufe nur, äh, so an, zum Quatschen.« Das fiel nun bestenfalls in die Kategorie »nicht überzeugend«, und ich wusste, dass sie wusste, dass ich wusste, dass das nicht stimmte.
    »Ich habe dich die ganzen letzten Tage kaum gesehen«, fing sie an, und ich lockerte den Griff um den Hörer. »Wie geht es dir mit dem neuen Job?« Das war immerhin ein Bereich meines Lebens, der reibungslos verlief. Ich hatte die Briefing-Unterlagen für Bernard fertiggestellt, mich mit dem Abteilungsleiter für die Haftpflicht und dem Obersten Schadensbeauftragten getroffen, um deren Anforderungen zu besprechen (die ich sowieso kannte, was diesen Teil der Arbeit zum Kinderspiel machte), und ich hatte ein Gespräch mit dem Chef geführt, der, sobald ich sein Büro betreten hatte, einen kurzen Blick auf meine Brüste warf und sie danach zu vergessen schien. Darauf war ich besonders stolz: Diejenigen, die keine schmierigen Vorgesetzten haben, werden es nicht verstehen, aber diejenigen, die welche haben, wissen genau, was ich meine. Es war das erste Gespräch, das ich mit ihm führte, bei dem ich den größten Teil selbst bestritt. Es war ein gutes Gefühl.
    Ich war noch dabei, Caroline all das zu erzählen (es war
unmittelbar nach dem Mittagessen, weshalb noch keiner aus der Mittagspause zurück war), als mir auffiel, dass sie mir nicht zuhörte. Ich konnte es an ihren flüchtigen »Hm«s am Ende mehrerer meiner Sätze erkennen. Unvermittelt brach ich mitten in einem Satz ab. Sie bemerkte es nicht einmal.
    »Also«, sagte sie mit der aufgesetzt fröhlichen Stimme von jemandem, der etwas im Schilde führt. »Hast du in letzter Zeit Bernard gesehen?«
    Ich hob meinen Blick zu der Stelle, an der Bernard eigentlich hätte sitzen sollen.
    »Er war die ganze Woche über nicht hier.«
    »Oh«, sagte sie und wartete auf eine weitere Erklärung. Ich wusste, wie ihr zumute war.
    »Er ist im Galwayer Büro, hat dort ein paar Sachen zu erledigen. Ich habe ihn nicht mehr gesehen, seit er am Samstag bei uns in der Wohnung war.« Ich klang so beiläufig, so entspannt.
    »Oh«, sagte Caroline noch einmal, und ihre Enttäuschung war fast greifbar. Aber da war noch etwas anderes. Etwas wie Erleichterung. Er hatte sie eindeutig nicht angerufen. Doch jetzt kannte sie einen guten Grund dafür. Oder nicht?
    »Könntest du …«, begann Caroline zögerlich.
    »Dich wissen lassen, wenn er wieder da ist?«, beendete ich den Satz für sie.
    »Äh, ja. Sofern du Zeit hast. Ich weiß, dass du dort viel zu tun hast, in der neuen Position und so. Wie geht es damit eigentlich?«
    Ich erzählte es ihr noch einmal, was mir weniger grausam schien. Ich sprach sowieso gerne darüber.
    »Caroline, ich muss aufhören«, sagte ich schließlich. »Ich werde in fünf Minuten bei einer Sitzung erwartet.«
Und das stimmte tatsächlich – anders als wenn meine Mutter mich anrief, und ich sagte, dass ich auflegen müsse, weil ich eine Sitzung oder eine Konferenz anstand – sie liebte den Klang dieser Wörter – oder weil ich dran war, Bagels fürs Büro zu besorgen.
    »Zu meiner Zeit gab es immer Scones«, sagte sie dann wehmütig und versank in Gedanken, um mit irgendeiner Erinnerung wieder aufzutauchen. Dann erzählte sie mir zum Beispiel davon, wie ihre Kolleginnen und sie sich jeden Freitagabend gegenseitig im Büro die Haare toupierten.
    »Hab ich dir schon einmal davon erzählt, wie wir uns am Freitagabend im Büro gegenseitig die Haare toupierten?«
    Oder von Ms O’Riordain, der altjüngferlichen Vorgesetzten, die nie geheiratet hatte und es auch nicht mehr tun würde, die ihre Haare in steife Kringel legte und diese kratzigen, dicken Strümpfe trug. Mam und ihre Kolleginnen stellten sich am Freitag um 16 Uhr 50 (Rauswurf war um 17 Uhr) im dritten Stock des Hauptpostamtes in einer Reihe auf. Sie standen da wie Schulmädchen auf einer Busfahrt zum Ferienlager.
    »Wie Schulmädchen auf einer Busfahrt zum Ferienlager standen wir da.« Wenn sie das sagte, lachte sie immer, und obwohl ich es schon tausendmal gehört hatte, lachte ich auch. Meine Bemühungen, sie abzulenken, sie aus der Telefonleitung zu bekommen, wirkten in Anbetracht der Stille, die jetzt seit einem Jahr zwischen uns herrschte, so kleinlich. Plötzlich wünschte ich mir, sie würde anrufen und ich

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