Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Tagebuch aus der Hölle (German Edition)

Tagebuch aus der Hölle (German Edition)

Titel: Tagebuch aus der Hölle (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Jeffrey Thomas
Vom Netzwerk:
über den gesamten Schutt wachten. Dann tauchten wir in eine weitere Gasse ein und kamen auf einer Straße wieder heraus, die mit unebenen Steinfliesen gepflastert und fast ebenso schmal wie die anderen Gassen war.
    Wir gingen noch eine ganze Weile weiter; irgendwann verlor ich die Orientierung. Wir befanden uns in einem obskuren Labyrinth aus Straßen, das ich noch nie zuvor erkundet hatte. Wir wurden zwar von mehreren Passanten gesehen, aber sie alle lenkten ihren Blick aus Angst vor Chara in Richtung Boden. Glücklicherweise begegneten wir keinen Dämonen, die in Oblivion ohnehin in der Minderheit waren. Nun erst sah ich, dass ihr Haar nicht zu einem Zopf zusammengebunden war, wie sie es normalerweise trug, sondern offen über ihren Rücken fiel, wie damals, als ich ihr zum ersten Mal begegnet war. Sie trug ihr Schwert bei sich. Ich wünschte, ich hätte meine Waffen mitgenommen, aber sie lagen gut versteckt in meinem Zimmer. Wie so oft in letzter Zeit hatte ich dieses Buch gegen mein Fenster gelehnt, damit Lyre wenigstens den Ausblick auf die Straße genießen konnte – wenn schon nicht auf die Skyline, die durch das riesige Maschinengebäude verdeckt war –, während er seine unerträglichen Stunden verlebte. Ich hoffte, dass er sich keine Sorgen machte, weil ich so lange wegblieb.
    »Tu so, als seist du mein Gefangener«, zischte Chara mir zu, als wir auf eine breitere Straße abbogen. Sie zog ihr Schwert und umschloss es mit ihrer Faust, während ihre andere Hand mein Handgelenk packte und sie mich sehr glaubwürdig hinter sich herzerrte, sodass ich ins Stolpern geriet. Nun, da sie sahen, dass Chara es ganz offensichtlich sehr ernst meinte, hatten die Menschen erst recht Angst, sie anzusehen, obwohl sie, wie ich annahm, Mitleid mit mir empfanden.
    Wir stiegen eine Steintreppe hinauf, die zwischen zwei dicht nebeneinanderstehenden Wohnhäusern eingequetscht war, und erreichten so eine höher gelegene Straße. Während ich hinter Chara die Treppe hinaufging, konnte ich meinen Blick einfach nicht von ihrem wackelnden Hintern abwenden, von ihren starken Beinen und ihren auf dem Rücken zusammengefalteten Flügeln. Ich fragte mich, ob sie mit ihren Flügeln wohl auch etwas empfinden konnte und wie es sich wohl für sie anfühlte, wenn ich sie berührte. Ich fühlte mich wegen meiner heimlichen Lust schuldig, besonders, weil ich wusste, wie sehr andere Menschen bereits unter diesem Wesen gelitten hatten – es war, als würde man einen Nazi begehren. Aber es schien mir schlicht unmöglich, nicht auf ihr strahlend weißes Fleisch zu starren.
    Vor uns lag eine Brücke, über die zahlreiche Menschen gingen. Bei näherer Betrachtung war sie jedoch auch nichts anderes als eine weitere nutzbare Baufläche, die komplett mit Häusern bedeckt war und mich an Fotografien der Ponte Vecchio in Florenz erinnerte, die ich irgendwann einmal gesehen hatte. Wir gingen durch einen der schattigen Bögen ihres steinernen Fundaments hindurch. Als wir uns unter der Brücke befanden, holte Chara einen Schlüssel aus einem kleinen Beutel, der am Scheidengürtel ihres Schwertes befestigt war. Sie schloss eine von Rost durchzogene Metalltür auf, die in den breiten Brückenpfeiler eingelassen war, und führte mich in das kleine Apartment, das sie gemietet hatte.
    Es war zwar größer als mein eigenes Zimmer, verfügte im Gegensatz dazu aber noch nicht einmal über ein einziges Fenster. Wände und Decke waren komplett mit Kupfer bedeckt und hatten reichlich Patina angesetzt, besonders die Decke, an der blanke Rohre verliefen, die Flüssigkeit ausschwitzten. Die abgelagerten Minerale hatten sich dort so weit ausgebreitet, dass sie die Rohre an einzelnen Stellen komplett verschluckten und sich hier und da winzige Stalaktiten gebildet hatten. Aus mehreren Wänden zischte Gas. In einer der Mauern befand sich außerdem eine ganze Reihe von Hebeln, sodass ich annahm, dass dies ursprünglich eine Art Technikraum gewesen war. Chara schob einen mächtigen Riegel vor, um die Eisentür zu sichern, und wandte sich dann wieder mir zu.
    »Als du mich damals befreit hast«, brachte sie hervor, »dachte ich, du hättest es vielleicht getan, weil du Angst hattest, es nicht zu tun. Ich dachte, du seist vielleicht einfach ein Arschkriecher – und ein Feigling.«
    »Ich habe es aus Mitleid getan!«, protestierte ich.
    Sie hob eine Hand. »Aber als du diesen verdammten Schweinen im Blue die Stirn geboten hast, wurde mir klar, dass du stärker bist, als ich

Weitere Kostenlose Bücher