Tagebuch aus der Hölle (German Edition)
eigene Beerdigung sehen zu müssen – und wie meine Mutter auch dort in einem Bestattungsinstitut stand. Ich durfte nicht darüber nachdenken, sonst würden meine Fänger sich den Gedanken vielleicht zunutze machen! Von dieser Szene würde ich den Blick abwenden müssen – voller Schuldgefühle. All das Leid, das ich der Frau zugefügt hatte, die mich in diese Welt gebracht hatte und die bereits den Verlust ihres Mannes und ihres ungeborenen Enkelkindes hatte verkraften müssen – wie selbstsüchtig ich doch gewesen war, wie blind durch meine eigenen nichtigen Sorgen. Dann dachte ich, dass ich vor lauter Peinlichkeit erneut sterben würde, wenn sie mir anschließend auch noch den fetten Stapel der Ablehnungsschreiben zeigten, die ich für meine literarischen Werke erhalten hatte.
Aber die Szenen schienen in umgekehrter chronologischer Reihenfolge abzulaufen. Ich sah, wie mein alter Hund Tippy eingeschläfert wurde und in meinen Armen starb. Ich hatte bei der Beerdigung meines Vaters nicht geweint, aber als ich Tippy sterben sah und mein zehn Jahre jüngeres Ich betrachtete, dem zehn Jahre der Abhärtung in dieser Welt fehlten, fühlte ich mich wieder genauso klein, und meine Tränen verschleierten mir den Blick. Da ich sie jedoch nicht wegwischen konnte, sah ich die nächsten paar Szenen ein wenig verschwommen.
Eine der letzten Szenen fiel etwas aus der Reihe, da sie im Vergleich zu den bisherigen, recht auffälligen, dramatischen Szenen viel subtiler war.
Ich war in der dritten Klasse, im Kunstunterricht. Eine hübsche junge Frau, die unsere Lehrerin während deren Mutterschaftsurlaub vertrat, ließ uns Karten aus buntem Tonpapier basteln, die wir unseren Müttern am Muttertag überreichen sollten. Sie zeigte uns, wie wir den Klebstoff auf das Einlegeblatt auftragen mussten, und dann gingen wir nach vorne ans Lehrerpult, damit sie uns dabei helfen konnte, es in die eigentliche Karte einzukleben. Sie erklärte uns, wir dürften nicht zu viel Klebstoff auf die äußere Hülle auftragen – nur hier und da ein paar Tropfen. Ich schätze, ich war wohl der Ansicht, dass sie damit nicht richtig zusammenkleben würde, und trug den Klebstoff etwas großzügiger auf … Als ich das Lehrerpult erreichte, schimpfte mich die Vertretungslehrerin aus: »Ich hab euch doch gesagt, dass ihr nicht zu viel Klebstoff verwenden sollt«, und dann pappte sie meine verklebte Einlage angewidert völlig schief auf der Karte an.
Ich erinnere mich noch lebhaft an meine Bestürzung, als ich auf die Karte hinuntersah, die ich meiner Mutter zum Muttertag schenken sollte. Aber genau wie in jenem Moment, als mir mein Kind durch eine Fehlgeburt genommen wurde, überwog meine Wut auch hier meine Trauer. Es war jene Art der Wut, die durch Ungerechtigkeit entsteht. Ich wusste, dass mein Vergehen – das Auftragen von etwas zu viel Klebstoff auf einer Muttertagskarte – weniger gravierend war als die Reaktion dieser erwachsenen Frau, die sich durch einen so kleinen Fehler eines Kindes zu solcher Verachtung hinreißen ließ. Es war, als würde mir in jenem Moment plötzlich bewusst, wie klein auch die Erwachsenen eigentlich waren – voller Furcht, Versagensängste und Verbitterung – und dass sie diese Gefühle lieber auf andere übertrugen, als dafür zu sorgen, dass ihre Mitmenschen nicht genauso leiden mussten wie sie selbst. Ich verspürte damals sozusagen eine Vorstufe der Ungerechtigkeit, die ich heute hier empfinde – und einmal mehr geht sie auf angebliche Respektspersonen zurück. Ich empfand keinerlei Scham. Ich verspürte auch keinerlei Bedauern. Ich wusste schon damals, wie auch heute, dass man mich ungerecht beurteilt und unfair behandelt hatte. Aber ganz offensichtlich hatte ich diesen kleinen Vorfall all die Jahre mitgeschleppt, auch wenn er eigentlich nicht besonders erinnerungswürdig erschien. Er war nur einer dieser vielen klitzekleinen Mosaiksteine jener Hölle, in der wir uns befinden, solange wir noch am Leben sind.
Ich erinnerte mich daran, dass ich versucht hatte, die Karte wieder auseinanderzureißen, um sie noch einmal richtig zusammenzukleben. Letztlich warf ich sie jedoch weg, bevor ich nach Hause ging … und dort versuchte ich, sie so gut ich konnte mit meinem eigenen Tonpapier und Klebstoff nachzubasteln. Wenigstens war sie nicht krumm und schief. Und meine Mutter liebte sie. Es war ein Gefühl des Triumphes, zumindest eines bescheidenen Triumphes. Wie eine kleine Trotzaktion, die den Vorfall zwar nicht
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