Tagebuch der arabischen Revolution (German Edition)
erfinden, gibt Chefredakteur Shukri al-Bahoumi zu. „Die Straße war viel schneller als wir Journalisten. Das Volk hat die Revolution geführt und wir saßen hinter unseren Schreibtischen und hinkten der Entwicklung hinterher.“ Umdenken sei schwer. „Jahrelang haben wir den Diktator hochleben lassen, und jetzt müssen wir von einem Tag auf den anderen unser Denken verändern, das zuvor damit beschäftigt war, sich selbst zu zensieren“, meint er. „Wir brauchen eine Therapie, um neu zu schreiben“, sagt er.
„Im neuen Tunesien haben wir völlig neue Spielräume, und wir müssen lernen, sie auszunutzen“, meint die Redakteurin Fatima Al-Karaei. „Wir lokalen Journalisten profitieren wie die ausländischen im Moment davon, dass es keine Regeln und keine Aufsichtsbehörden mehr gibt“, erklärt sie. Das Informationsministerium, das wie alle Ministerien gleichen Namens in der arabischen Welt eher ein „Informationsverhinderungsministerium“ war, hat sich am Montag aufgelöst. Das Gebäude liegt verwaist in der Innenstadt. Die Schilder wurden abgeschraubt.
Und wer kontrolliert jetzt das Staats-TV? Dort zu drehen und Interviews zu machen wurde uns verboten. Dafür, heißt es, brauchte man jetzt die Genehmigung des Verteidigungsministeriums. Wie bei so vielem im Land hat auch im wichtigsten Medium Tunesiens die Armee die Kontrolle übernommen.
Arabesken, tazblog 19.1.2011
Journalistischer Alltag in Tunis: Wo sich Proteste und wiederkehrende Normalität die Hand geben
Gestern habe ich den halben Tag auf der Avenue Bourguiba im Zentrum von Tunis verbracht. Diese Flanierstraße muss man als Journalist eigentlich nur immer auf und ab gehen und warten, was passiert. Genauso machen es viele Tunesier, die scheinbar unschuldig spazieren gehen und herumstehen und sich dann wenige Minuten später zu kleinen Demonstrationszügen formieren, um gegen die neue Übergangsregierung zu demonstrieren, in der nach ihrem Geschmack zu viele Köpfe des alten Regimes sitzen. Manchmal kommen sie auch schon als Protestzug formiert aus einer der Seitenstraßen.
Das ist der Grund, warum sich auch die Polizisten inzwischen auf dieser Straße häuslich eingerichtet haben. Auch sie stehen in Kampfmontur an den Straßenecken und warten auf ihre Einsatzbefehle. Meist fängt das Katz-und-Maus-Spiel am späten Vormittag an. Gegen Mittag liegen dann die ersten Tränengasschwaden in der Luft. Ein paar Mal bin ich gestern mit den Demonstranten mitgezogen und habe die Polizeieinsätze verfolgt. Einmal habe ich währenddessen dem ORF-Radio einfach ins Handy erzählt, was gerade geschieht. Das gibt, glaube ich, einen ganz guten Eindruck von der Atmosphäre.
Das klingt jetzt alles dramatisch und war es auch in diesem Moment, aber es gibt nur einen Teil der Wirklichkeit in Tunis wieder, wo die Proteste und die wiederkehrende Normalität sich ständig die Hand geben. Während am einen Ende der Avenue Bourguiba eine kleine Straßenschlacht tobt, haben am anderen Ende die Cafés geöffnet. Wir gönnen uns immer unsere journalistische Pause im Café Bagdad. Da kam man gut mit einer Flasche Wasser und einem Espresso die Reste des Tränengases herunterspülen.
Abends sitzt man dann im Hotel und schneidet die Fernsehgeschichten. Bei der nächtlichen Ausgangssperre gibt es ohnehin nicht viel anderes zu tun. Oben am Hoteldach befindet sich die Live-Position. Von dort wird man bei Bedarf per Satellit live ins Studio geschaltet.
Als ich mich gestern auf meiner Position am Dach des siebenstöckigen Gebäudes aufgestellt hatte, wurde es plötzlich trotz Ausgangssperre unten auf der Straße laut. Eine Gruppe von Polizisten hatte sich dort versammelt und nervös zu uns heraufgerufen, was wir da oben machen, wir sollten verschwinden. Einer hatte schon seine Waffe gezückt. Die Nerven der Polizisten liegen wohl blank, weil in den letzten Tagen immer wieder Scharfschützen, angeblich ehemalige Gardisten Ben Alis, von Dächern geschossen haben, um Chaos zu schüren. Eine Intervention des Rezeptionisten, der kurz auf die Straße gegangen war, um die Sache aufzuklären, konnte die Situation dann aber schnell entschärfen. Die Live-Schaltung mit der Nachrichtensendung ZIB konnte wenige Minuten darauf ohne weitere Zwischenfälle stattfinden.
Arabesken, tazblog 20.1.2011
Das Zitat des Tages aus Tunis
Das Zitat des Tages über das Leben in einem Diktator-freien Tunesien kommt von unserem dortigen Produzenten, dem Journalisten Muhsen Abdel Rahman: „Ich glaube,
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