Tagebuch eines Vampirs 8 - Jagd im Abendrot
gehasst. Wir haben einander getötet,
als wir Menschen waren, und ich denke nicht, dass auch nur einer von uns
jemals über die Schuldgefühle und den Schock hinweggekommen ist, über
94/328
das Grauen dieses Augenblicks.« Sie spürte, wie ein langer Schauder sein-
en Körper durchlief.
Er seufzte, ein leises, trauriges Geräusch. »Und dass wir endlich anfin-
gen, den Weg zueinander zurückzufinden, um wieder Brüder zu sein, lag
ausschließlich an dir.« Seine Stirn ruhte noch immer auf ihrer Schulter.
Jetzt ergriff er Elenas Hand und umfing sie mit seinen beiden Händen,
drehte sie um und streichelte sie, während er nachdachte. »Er ist so plötz-
lich gestorben. Ich schätze, ich habe nie erwartet … ich habe nie erwartet,
dass Damon vor mir sterben würde. Er war immer der Starke, derjenige,
der das Leben wahrhaft liebte. Ich fühle mich …« Er lächelte schwach, es
war nur ein bekümmertes Zucken seiner Lippen. »Ich fühle mich … über-
raschend einsam ohne ihn.«
Elena fädelte ihre Finger zwischen Stefanos und hielt seine Hand fest
umfangen. Er drehte sich zu ihr um und schaute ihr in die Augen, und sie
rückte ein wenig von ihm ab, damit sie ihn deutlicher sehen konnte. Da
war Schmerz in seinen Augen und Trauer, aber da war auch eine Härte, die
sie noch nie zuvor gesehen hatte.
Sie küsste ihn und versuchte, diesen harten Ausdruck zu löschen. Für
eine halbe Sekunde widersetzte er sich ihr, dann erwiderte er ihren Kuss.
»Oh Elena«, sagte er mit belegter Stimme und küsste sie erneut.
Während der Kuss leidenschaftlicher wurde, spürte Elena ein süßes, be-
friedigendes Gefühl in sich – das Gefühl, dass dies richtig war. So war es
immer: Wenn sie sich von Stefano getrennt fühlte, konnte die Berührung
ihrer Lippen sie wieder vereinen. Eine Woge der Liebe stieg in ihr auf,
gemischt mit Erstaunen, und sie hielt daran fest, gab ihm dieses Gefühl
zurück, und die Zärtlichkeit zwischen ihnen wuchs. Da ihre Kräfte fort
waren, brauchte sie dieses Gefühl mehr denn je.
Sie griff mit ihrem Geist und ihren Gefühlen aus, vorbei an der Zärtlich-
keit, vorbei an der felsenfesten Liebe, die in Stefanos Kuss lag, und drang
tiefer in seinen Geist ein. Er war erfüllt von entschlossener Leidenschaft,
die sie erwiderte; ihre Gefühle verschränkten sich ineinander, während
ihre Finger das Gleiche taten.
95/328
Unter dieser Leidenschaft lag Trauer, eine schreckliche, endlose Trauer,
und noch weiter darunter, vergraben in den Tiefen von Stefanos Gefühlen,
war eine quälende Einsamkeit, die Einsamkeit eines Mannes, der
Jahrhunderte ohne einen Gefährten gelebt hatte.
Doch in dieser Einsamkeit spürte Elena den Geschmack von etwas Un-
vertrautem. Etwas … Unnachgiebigem und Kaltem und schwach Metallis-
chem, als hätte sie in Alufolie gebissen.
Stefano verbarg irgendetwas vor ihr. Elena war sich dessen sicher, und
sie griff tiefer in seinen Geist hinein, während ihre Küsse immer intensiver
wurden. Sie brauchte alles von ihm … Sie begann, ihr Haar zurück-
zuziehen, um ihm ihr Blut anzubieten. Dann würden sie einander endlich
wieder so nah sein, wie sie nur konnten.
Aber bevor er ihr Angebot annehmen konnte, klopfte es plötzlich an der
Tür.
Fast sofort wurde die Tür geöffnet, und Tante Judith spähte herein.
Elena blinzelte und stellte fest, dass sie allein war; die Innenflächen ihrer
Hände brannten von der Geschwindigkeit, mit der Stefano sich ihr entzo-
gen hatte. Sie schaute sich hastig um, aber er war verschwunden.
»Das Frühstück steht auf dem Tisch, Elena«, rief Tante Judith fröhlich.
»Mh-hm«, erwiderte Elena geistesabwesend, betrachtete den Kleiders-
chrank und fragte sich, wo Stefano sich wohl versteckt hatte.
»Ist alles in Ordnung mit dir, Liebes?«, fragte ihre Tante, mit einer Sor-
genfalte auf der Stirn. Elena dämmerte langsam, welches Bild sie wohl
abgab: Zerzaust, mit großen Augen und geröteten Wangen saß sie in ihrem
zerwühlten Bett und schaute sich suchend im Zimmer um. Es war lange
her, dass Stefano seine vampirische Schnelligkeit für etwas so Profanes be-
nutzen musste, wie für das Entwischen aus ihrem Schlafzimmer!
Sie schenkte Tante Judith ein beruhigendes Lächeln. »Tut mir leid, ich
schlafe immer noch halb. Bin aber gleich unten. Außerdem sollte ich mich
wirklich beeilen. Stefano wird bald hier sein, um mich abzuholen.«
Als Tante Judith das Zimmer verließ, entdeckte Elena endlich
Weitere Kostenlose Bücher