Tagebuch eines Vampirs 8 - Jagd im Abendrot
die Bank, aber weder ihre At-
mung noch ihr stetiger Herzschlag veränderten sich auch nur im Gering-
sten. Genau wie bei Bonnie. Das Phantom hatte Elena erwischt, und Ste-
fano spürte, wie etwas in ihm entzweibrach. Er hatte es nicht geschafft, sie
zu beschützen, auch nur eins der beiden Mädchen zu beschützen.
Sanft schob Stefano eine Hand unter Elena, umfasste mit der anderen
schützend ihren Kopf und zog sie in seine Arme. Er wiegte sie an seiner
Brust. Dann kanalisierte er das Wenige, was ihm an Macht geblieben war,
in Schnelligkeit und rannte los.
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Zum wohl hundertsten Mal sah Meredith auf die Uhr und fragte sich, war-
um Stefano und Elena noch nicht da waren.
»Ich kann dieses Wort überhaupt nicht lesen«, beklagte Matt sich. »Ich
hab immer gedacht, meine Handschrift sei übel. Aber das hier sieht so aus,
als hätte Caleb es mit geschlossenen Augen geschrieben.« Er hatte sich
frustriert sein Haar zerrauft, das ihm jetzt in unordentlichen kleinen
Büscheln zu Berge stand; unter seinen Augen lagen schwache, bläuliche
Ringe.
Meredith nahm einen Schluck Kaffee und streckte die Hand aus. Matt
reichte ihr das Notizbuch, das er gerade untersuchte. Sie hatten festges-
tellt, dass Meredith Calebs winzige, eckige Schrift am besten lesen konnte.
»Das ist ein O, denke ich«, erklärte sie. »Ist deosil ein Wort?«
»Ja«, antwortete Alaric und richtete sich ein wenig auf. »Es bedeutet im
Uhrzeigersinn und steht dafür, spirituelle Energie in körperliche Formen
zu übertragen. Da seid ihr vielleicht auf etwas gestoßen. Darf ich mal
sehen?«
Meredith reichte ihm das Notizbuch. Ihre Augen schmerzten, und ihre
Muskeln waren steif, nachdem sie bereits den ganzen Morgen über
dagesessen hatten, um Calebs Notizbücher, Zeitungsausschnitte und
Bilder weiter zu untersuchen. Sie ließ die Schultern kreisen und reckte
sich.
»Nein«, sagte Alaric, nachdem er einige Minuten lang darin gelesen
hatte. »Das bringt nichts. Hier geht es nur um einen magischen Zirkel.«
Meredith wollte gerade etwas erwidern, als Stefano in der Tür erschien,
blass und mit wild blickenden Augen. Elena lag bewusstlos in seinen Ar-
men. Meredith ließ ihre Kaffeetasse fallen. »Stefano!«, rief sie und starrte
ihn entsetzt an. »Was ist passiert?«
»Das Phantom hat sie gekriegt«, erwiderte Stefano mit tonloser Stimme.
»Ich weiß nicht, wie.«
Meredith hatte das Gefühl, den Halt zu verlieren. »Oh nein, oh nein«,
hörte sie sich erschrocken stammeln. »Nicht auch noch Elena.«
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Matt stand auf und funkelte Stefano an. »Warum hast du das nicht ver-
hindert?«, fragte er anklagend.
»Dafür haben wir jetzt keine Zeit«, sagte Stefano kalt und ging an ihnen
vorbei zur Treppe, während er Elena schützend an sich gedrückt hielt. In
stummem Einvernehmen folgten Matt, Meredith und Alaric ihm hinauf in
das Zimmer, in dem Bonnie lag.
Mrs Flowers saß an ihrem Bett und strickte, und ihr Mund formte ein
entsetztes O, als sie sah, wen Stefano hereintrug. Stefano legte Elena sanft
auf die andere Seite des Bettes neben Bonnies bleiche, zierliche Gestalt.
»Es tut mir leid«, sagte Matt langsam. »Ich hätte dir keine Vorwürfe
machen sollen. Aber … was ist passiert?«
Stefano zuckte nur die Achseln. Er wirkte erschüttert.
Meredith’ Herz krampfte sich zusammen, als sie ihre beiden besten Fre-
undinnen wie Stoffpuppen daliegen sah. Sie waren so reglos. Selbst im
Schlaf war Elena beweglicher und ausdrucksstärker gewesen als jetzt. Von
klein auf hatten die Freundinnen immer wieder die Nächte zusammen ver-
bracht, und so hatte Meredith schon tausend Mal die schlafende Elena
lächeln, sich fester in die Decken rollen und das Gesicht in die Kissen
drücken sehen. Jetzt wirkte Elenas ansonsten so gold- und cremefarbene
Wärme blass und kalt.
Und Bonnie, Bonnie, die immer so lebhaft und flink gewesen war, dass
sie in ihrem ganzen Leben kaum jemals länger als ein oder zwei Sekunden
still gesessen hatte. Jetzt war sie vollkommen reglos, erstarrt, beinahe
farblos, bis auf die dunklen Punkte ihrer Sommersprossen auf ihren
bleichen Wangen und das leuchtend rote Haar auf ihrem Kissen. Hätten
sich nicht die Oberkörper der beiden Mädchen sanft gehoben und gesenkt,
hätten sie Schaufensterpuppen sein können.
»Ich weiß es nicht«, sagte Stefano, und seine Worte klangen panisch. Er
sah Meredith in die Augen. »Ich weiß nicht, was ich tun soll.«
Meredith räusperte sich. »Wir
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