Tagebuch eines Vampirs 9 - Jagd im Mondlicht
Mord auf dem Campus abzulenken, aber das hatte nur dazu ge-
führt, dass er noch größere Angst um Elena hatte, jetzt, da er nicht mehr
selbst für ihre Sicherheit sorgen konnte.
Er schloss das Buch und ließ den Kopf in die Hände sinken.
Was tat er hier ohne Elena?
Er wäre ihr überall hin gefolgt. Sie war so schön, dass es manchmal
schmerzte, sie auch nur anzusehen, ebenso wie es schmerzte, in die Sonne
zu blicken. Denn ebenso wie diese Sonne leuchtete Elena mit ihrem
goldenen Haar, ihren lapislazuliblauen Augen und ihrer zarten creme-
weißen Haut, die höchstens den Hauch eines rosigen Schimmers zeigte.
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Aber Elena hatte mehr als Schönheit zu bieten. Ihre Schönheit allein
hätte Stefanos Aufmerksamkeit niemals lange fesseln können. Tatsächlich
hatte ihn ihre Ähnlichkeit mit Catarina zuerst abgeschreckt. Aber unter
ihrem kühlen, schönen Äußeren arbeitete ein cleverer Verstand, der im-
merzu Pläne schmiedete, und pochte ein Herz, das von dem Wunsch be-
seelt war, jeden ihrer Lieben zu beschützen.
Stefano hatte Jahrhunderte mit der Suche nach etwas verbracht, das
ihm wieder das Gefühl gab, lebendig zu sein. Und mit Elena war er sich so
sicher gewesen wie niemals zuvor, genau das gefunden zu haben. Sie war
die einzig Richtige für ihn.
Aber warum konnte sie sich seiner nicht ebenso sicher sein? Was auch
immer Elena darüber sagte, dass Stefano der Eine sei – Tatsache war,
dass die beiden einzigen Mädchen, die er in seinem langen Leben geliebt
hatte, nicht nur seine Liebe erwiderten, sondern auch die seines Bruders.
Stefano schloss die Augen und massierte mit den Fingern seinen
Nasenrücken, dann stand er ruckartig vom Schreibtisch auf. Vielleicht
hatte er Hunger. Mit wenigen schnellen Schritten durchquerte er sein
weiß gestrichenes Zimmer, das mit einer Mischung aus seinen eigenen el-
eganten Möbeln und billigem College-Kram eingerichtet war, und stand
auf dem Balkon. Die Nacht roch nach Jasmin und Autoabgasen. Stefano
sandte seine Macht sanft in die Dunkelheit aus, suchend, tastend nach …
irgendetwas … dort. Ein winziger Geist, der sich in Reaktion auf seinen
belebte.
Sein Gehör, schärfer als das jedes Menschen, fing das schwache Surren
von Schallwellen auf, und eine kleine, pelzige Fledermaus landete auf
dem Geländer des Balkons, angezogen von seiner Macht. Stefano griff
nach dem Tier, das ihn – durch seine Macht gebannt – zahm anschaute.
Stefano versenkte seine Reißzähne und trank, jedoch sorgfältig darauf
bedacht, nicht zu viel von der kleinen Kreatur zu nehmen. Bei dem
Geschmack des Blutes verzog er angewidert das Gesicht. Dann ließ er die
Fledermaus los, die zaghaft und noch ein wenig benommen in die Luft
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flatterte, bevor sie Geschwindigkeit aufnahm und sich wieder in der
Nacht verlor.
Er hatte keinen schrecklichen Hunger gehabt, aber das Blut ließ ihn
wieder klar denken. Elena war so jung. Das durfte er nicht vergessen. Sie
brauchte Zeit, um Lebenserfahrung zu sammeln, Zeit, um ihren Weg zu
Stefano zurückzufinden. Er konnte warten. Er hatte alle Zeit der Welt.
Aber er vermisste sie so sehr.
Er sammelte seine Kraft, sprang vom Balkon und landete leichtfüßig
auf dem Boden neben einem Blumenbeet. Stefano griff hinein und er-
tastete Blütenblätter, so weich wie Seide. Ein Gänseblümchen, frisch und
unschuldig. Er pflückte es und ging wieder ins Wohnheim, diesmal durch
den Vordereingang.
Vor Elenas Tür zögerte er. Er konnte die gedämpften Geräusche hören,
mit denen sie sich im Raum bewegte, konnte ihren unverkennbaren, be-
rauschenden Duft riechen. Sie war allein, und er war versucht, einfach an-
zuklopfen. Vielleicht sehnte sie sich nach ihm, so wie er sich nach ihr
sehnte? Er stellte sich vor, wie sie in seine Arme sank … und schüttelte
mit fest zusammengepressten Lippen den Kopf. Er musste Elenas Wün-
sche respektieren. Wenn sie Zeit für sich brauchte, würde er sie ihr geben.
Er betrachtete das weiße Gänseblümchen und legte es behutsam auf Elen-
as Türknauf ab. Sie würde die Blume finden und wissen, von wem sie war.
Sie sollte wissen, dass er auf sie warten konnte. Aber sie sollte auch wis-
sen, dass seine Gedanken stets bei ihr waren.
Kapitel Fünfzehn
Auf dem Weg zu ihrer Zimmertür stöberte Elena in ihrer Handtasche und
ging im Geiste eine Liste durch: Portemonnaie, Schlüssel, Handy, Lip-
gloss, Eyeliner, Haarbürste, Studentenausweis. Sie öffnete die Tür
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