Tagebuch eines Vampirs - Jagd im Morgengrauen
wuchsen immer höher, bis sie seine Hände umwucherten. Andrés öffnete ein klein wenig den Mund und atmete heftiger. Von oben erklang ein Knarren, und als Elena aufschaute, sah sie, wie sich neue Blätter an den Ästen der Birke entfalteten; ihr frisches Frühlingsgrün wirkte seltsam fremd neben den bereits vorhandenen gelb gefärbten Herbstblättern. Hinter ihrem Rücken hörte sie einen leisen Aufprall, und Elena drehte sich um und bemerkte, dass ein kleiner Kieselstein an sie herangerollt war. Als sie sich genauer umsah, erblickte sie einen ganzen Ring aus Kieseln und kleinen Steinen, die alle sachte auf sie zurutschten.
Andrés’ Haar stellte sich leicht auf und einzelne Strähnen knisterten von Energie. Er wirkte mächtig und gütig.
»S o«, sagte er und öffnete die Augen. Seine Haltung entspannte sich ein wenig. Die Geräusche der schnell wachsenden Pflanzen und die Bewegung der Kiesel verebbten. Die Luft um sie herum war jedoch immer noch voller Energie. »I ch kann die Macht der natürlichen Welt anzapfen und sie kanalisieren, um mich gegen das Übernatürliche zu verteidigen. Wenn es sein muss, kann ich dafür sorgen, dass Gesteinsbrocken sich selbst durch die Luft schleudern oder Baumwurzeln meine Feinde in den Boden hinunterziehen. Meine Stärke nährt die Natur und die Natur nährt wiederum meine Stärke. In Costa Rica ist das noch viel wirkungsvoller, weil es so viel mehr unberührte Natur gibt und daher so viel mehr wilde Energie als hier.«
»E s sieht aber ganz so aus, als seien deine Fähigkeiten auch hier ziemlich stark«, bemerkte Elena, ergriff einen glatten weißen Kieselstein und drehte ihn neugierig in den Fingern.
Andrés grinste und zog bescheiden den Kopf ein. »W ie dem auch sei«, fuhr er fort, »m eine erste Aufgabe kam auf mich zu, als ich siebzehn war. Javier hatte mich damals ungefähr fünf Jahre lang ausgebildet, und ich brannte darauf, mich zu beweisen. Eine Kreatur tötete junge verheiratete Frauen in der Stadt, in der wir lebten, und eine Oberwächterin– die auf ihre Weise ziemlich furchteinflößend war und sehr mächtig und zielstrebig– kam zu mir und erklärte mir, mein Job sei es, die Kreatur aufzuspüren und zu töten.«
»W ie hast du sie gefunden?«, wollte Elena wissen.
Andrés zuckte die Achseln. »D as war ziemlich leicht. Sobald ich meinen Auftrag hatte, zog mich irgendetwas zu der Bestie hin. Sie entpuppte sich als Dämon in der Gestalt eines schwarzen Hundes. Es war ein reiner Dämon, keine Halbkreatur wie ein Vampir oder ein Werwolf. Dieser Dämon wurde von Schuldgefühlen angezogen, insbesondere von Schuldgefühlen wegen Ehebruchs. Javier hatte mich die Grundlagen des Zugangs zu meiner Macht gelehrt, aber als ich sie dann das erste Mal nutzte, hatte ich das Gefühl, als würde ich die ganze Welt in mich hineinsaugen. Ich war in der Lage, einen Wind heraufzubeschwören und den schwarzen Hund zu vernichten. « Er lächelte Elena erneut schüchtern an.
»W enn ich versuche, die Natur auf die gleiche Weise anzuzapfen, wird das vielleicht auch mir helfen, meine Kräfte freizulegen«, schlug Elena vor.
Andrés kniete sich direkt vor Elena hin. »S chließ die Augen«, wies er sie an, und Elena gehorchte. »A lso«, fuhr Andrés fort; Elena spürte, dass er sanft ihre Wange berührte. »A tme tief durch und konzentrier dich auf deine Verbindung mit der Erde hier. Deine Begabung wird nicht die gleiche sein wie meine, aber sie wird in diesem Land verwurzelt sein, an dem Ort deines Ursprungs, genau wie es in meinem Fall war.«
Elena atmete tief und langsam ein und aus und konzentrierte sich auf den Boden unter ihr, die Wärme des Sonnenlichts auf ihren Schultern und das Kitzeln des Grases an ihren Beinen. Es fühlte sich behaglich an, aber sie spürte keine mystische Verbindung zwischen sich und der Welt um sie herum. Sie knirschte mit den Zähnen und gab sich noch mehr Mühe.
»H alt«, sagte Andrés sanft. »D u bist zu angespannt.« Er nahm die Hand von ihrer Wange, und sie spürte, dass er sich neben sie setzte. Sein Oberschenkel berührte ihren und er ergriff ihre Hand. »L ass es uns einmal auf diese Weise versuchen. Ich werde etwas von meiner Verbindung mit der Erde in dich hineinfließen lassen. Gleichzeitig will ich, dass du dir bildlich vorstellst, wie du tiefer in dich selbst versinkst. All die Türen, die für gewöhnlich in dir verschlossen sind, werden sich öffnen und deine Macht hindurchfließen lassen.«
Elena war sich nicht ganz sicher,
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