Tagebuch (German Edition)
so ein feiner und hübscher Junge!
Deine Anne M. Frank
Samstag, 18. März 1944
Liebe Kitty!
Niemandem auf der Welt habe ich mehr über mich selbst und meine Gefühle erzählt als dir, warum sollte ich dir dann nicht auch etwas über sexuelle Dinge erzählen?
Eltern und Menschen im Allgemeinen verhalten sich bei diesem Thema sehr eigenartig. Statt dass sie sowohl ihren Mädchen als auch ihren Jungen von zwölf Jahren alles erzählen, werden Kinder bei solchen Gesprächen aus dem Zimmer geschickt und dürfen selbst sehen, wo sie ihre Weisheit herbekommen. Wenn die Eltern dann später entdecken, dass ihre Kinder doch etwas erfahren haben, nehmen sie an, dass die Kinder mehr oder weniger wissen, als tatsächlich wahr ist. Warum versuchen sie dann nicht noch, das Versäumte nachzuholen, und fragen, wie es damit steht?
Ein wichtiges Hindernis gibt es für die Erwachsenen, doch ich finde es sehr klein. Sie denken nämlich, dass Kinder sich die Ehe dann nicht mehr heilig und unversehrt vorstellen, wenn sie wissen, dass diese Unversehrtheit in den meisten Fällen bloß Unsinn ist. Ich persönlich finde es für einen Mann überhaupt nicht schlimm, wenn er ein bisschen Erfahrung mit in die Ehe bringt. Damit hat die Ehe doch nichts zu tun.
Als ich gerade elf geworden war, klärten sie mich über die Periode auf. Woher sie kam oder was sie für eine Bedeutung hat, wusste ich aber noch lange nicht. Mit zwölfeinhalb Jahren erfuhr ich mehr, weil Jopie nicht so blöd war wie ich. Wie Mann und Frau zusammenleben, hat mir mein Gefühl selbst gesagt. Am Anfang fand ich diese Vorstellung verrückt, aber als Jacque es mir bestätigte, war ich schon ein bisschen stolz auf meine Intuition.
Dass Kinder nicht aus dem Bauch geboren werden, habe ich auch von Jacque, die sagte einfach: »Wo es hineingeht, kommt es fertig wieder heraus.« Über Jungfernhäutchen und andere Einzelheiten wussten Jacque und ich aus einem Buch über sexuelle Aufklärung. Dass man Kinderkriegen verhindern kann, wusste ich auch, aber wie das alles innerlich geht, war mir ein Geheimnis. Als ich hierher kam, erzählte Vater mir von Prostituierten und so weiter, aber alles in allem bleiben genug Fragen übrig.
Wenn eine Mutter ihren Kindern nicht alles erzählt, erfahren sie es stückchenweise, und das ist sicher verkehrt.
Obwohl Samstag ist, bin ich nicht gelangweilt. Das liegt daran, dass ich mit Peter auf dem Dachboden war. Mit geschlossenen Augen habe ich dagesessen und geträumt, es war herrlich.
Deine Anne M. Frank
Sonntag, 19. März 1944
Liebe Kitty!
Gestern war ein sehr wichtiger Tag für mich. Nach dem Mittagessen verlief alles ganz normal. Um fünf Uhr setzte ich Kartoffeln auf, und Mutter gab mir etwas von der Blutwurst, um sie Peter zu bringen. Ich wollte erst nicht, ging dann aber doch. Er wollte die Wurst nicht annehmen, und ich hatte das elende Gefühl, dass es noch immer wegen des Streites über das Misstrauen war. Auf einmal konnte ich nicht mehr, die Tränen schossen mir in die Augen. Ich brachte die Untertasse wieder zu Mutter und ging aufs Klo, zum Ausweinen. Dann beschloss ich, die Sache mit Peter durchzusprechen. Vor dem Essen saßen wir zu viert bei ihm an einem Kreuzworträtsel, da konnte ich also nichts sagen. Aber als wir zu Tisch gingen, flüsterte ich ihm zu: »Machst du heute Abend Steno?«
»Nein«, antwortete er.
»Dann möchte ich dich später kurz sprechen.« Er war einverstanden. Nach dem Abwasch ging ich also zu ihm und fragte, ob er die Blutwurst wegen des letzten Streits nicht angenommen hätte. Das war es zum Glück nicht, er fand es aber nur nicht richtig, so schnell nachzugeben. Es war sehr warm im Zimmer gewesen, und mein Gesicht war rot wie ein Krebs. Deshalb ging ich, nachdem ich Margot das Wasser hinuntergebracht hatte, noch mal nach oben, um etwas Luft zu schnappen. Anstandshalber stellte ich mich erst bei van Daans ans Fenster, ging aber schon bald zu Peter. Er stand an der linken Seite des offenen Fensters, ich stellte mich an die rechte. Es war viel leichter, am offenen Fenster und im Dunkeln zu sprechen, als bei Licht. Ich glaube, Peter fand das auch. Wir haben uns so viel erzählt, so schrecklich viel, das kann ich gar nicht alles wiederholen. Aber es war toll, der schönste Abend, den ich im Hinterhaus je hatte. Einige Themen kann ich dir doch kurz wiedergeben.
Erst sprachen wir über die Streitereien, dass ich denen nun ganz anders gegenüberstehe, dann über die Entfremdung zwischen uns und
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