Tagebücher der Henker von Paris
Anhänglichkeit Pauls an seinen Verwandten beeinträchtigte, so hatte er doch zur Folge, daß die liebevolle Sorge, die er ihm bezeigt hatte, allmählich nachließ.
Inzwischen trugen die Nachrichten, die Charles Sanson von Abbeville erhielt, zu seinen Qualen bei.
Den Briefen Colombes nach war es nicht mehr zweifelhaft, daß der Zustand Jean Baptistes sich mit jedem Tage verschlimmerte.
Hier folgt einer dieser Briefe:
»Charles, mein Bruder, warum muß ich Dich um das Almosen Deiner Erinnerung bitten? Worin habe ich mich Deiner Freundschaft unwürdig gezeigt? Wenn Dein Herz gegen die Stimme deren, die sich Deine sehr freundschaftliche und sehr ergebene Schwester nennt, unnachgiebig, ist, warum bleibt es bei der Stimme dessen, der das Band ist, das uns in dieser und in einer anderen Welt vereinigt, unempfindlich? Dein vielgeliebter Bruder leidet grausam. Alle seine Nächte sind schlaflos, und diese Nachtwachen wendet er zu Klagen darüber an, daß ihn sein geliebter Bruder, der ihm nicht ein tröstendes Wort schickt, verlassen hat. Seit Donnerstag, dem 24. d.M., hat sich sein Übel sehr verschlimmert; ich flehe Gott an, daß es ihm gefallen möge, mein Leben statt das Leben meines Gatten zu nehmen, wie es meine Pflicht als Gattin und Christin ist, aber lange schon hört Gott nicht mehr auf meine Gebete. Ich finde nicht mehr die Resignation, die andere Betrübnisse mich gelehrt hatten, in mir – eine so schmerzliche und tödliche Pein ist es, einen armen von Schmerzen verzehrten Mann klagen zu hören, ohne ihm helfen zu können. Warum schreibst Du uns nicht, mein Bruder? Hast Du Dich denn so verändert, daß Du kein Gedächtnis mehr für die hast, die Dich so sehr liebten? Schreibe an Deinen Bruder, Charles. Wenn es nötig ist, will ich auf Deine Freundschaft verzichten, wenn Du denkst, daß sie mir nicht bleiben darf, und ich leiste Dir einen Schwur, daß, wenn mir der Herr den nimmt, den er mir als Stütze gegeben hat, ich Dir in keiner Weise zur Last fallen will. Möge Deine Freundschaft wenigstens dem nicht fehlen, der nur noch dieses einzige Gut hat, und wenn Gott seine letzte Stunde schon bestimmt hat, dann mache, daß er den Trost habe, Dich mit mir segnen zu können.
Den 31. Mai des Jahres 1662.
Colombe Sanson.«
Man kann sich leicht die Verwirrung denken, welche diese schmerzlichen Vorwürfe in der ohnehin schon so getrübten Seele Charles Sansons anrichten mußten.
Bei dem Gedanken, daß er von seinem vielgeliebten Bruder für immer getrennt werden sollte, vergoß er aufrichtige Tränen, gleichzeitig aber beschleunigte eine andere Idee den Blutlauf in seinen Adern und versetzte ihn in die tödlichste Angst.
Er dachte mit Schrecken an das, was zwischen Colombe und ihm an dem Tage, an dem er sie verlassen hatte, vorgefallen war; er schöpfte aus dieser Erinnerung die Überzeugung von seiner Schwachheit und der Eitelkeit seiner Vorsätze, und er wagte sich nicht die Frage vorzulegen, was geschehen würde, wenn die Hand Gottes das Hindernis, vor dem seine Leidenschaft zurückgewichen war, fortgeräumt hätte.
Und als ob dies noch nicht genug gewesen wäre, ihn niederzubeugen, verwundeten noch die kleinen, aber gebieterischen Sorgen der Existenz derer, die er liebte, sein zerrissenes Herz.
Die Krankheit Jean Baptistes hatte die Hilfsquellen der unglücklichen Wirtschaft erschöpft.
Charles hatte seinem Bruder das wenige Geld, das er besaß, geschickt, aber aus den schmerzlichen Klagen in den Briefen Colombes hatte er ersehen, daß dieses Opfer bei weitem nicht für die Bedürfnisse, die mit dem Übel zunahmen, hingereicht hatten.
Er antwortete seiner Schwägerin, denn ich finde in seiner Korrespondenz noch zwei Briefe von Colombe Sanson, die das Datum vom Juni 1662 tragen, mehrere Abschriften von der Hand Charles', die sich alle auf die Krankheit seines Bruders beziehen, und eine große Anzahl verschiedener Papiere, auf denen er Sätze mit durchstrichenen Worten entworfen und die er mit einer Sorgfalt aufbewahrt hatte, welche anzeigt, daß er einen hohen Wert auf das legte, was ihm die erste Liebe seiner Jugend in das Gedächtnis zurückrief.
Als mein Ahne eines Nachmittags in das Haus, das er bewohnte, zurückkehrte, fand er auf der Schwelle einen Boten, der ihn erwartete. Dieser Mann überreichte ihm einen Brief.
Er hatte kaum die Augen auf die Aufschrift geworfen, als er leichenblaß wurde; er wankte, und wäre die Bank nicht dagewesen, auf die sich der Bote gesetzt hatte, so würde er
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