Tagebücher: Jahre 1982-2001 (German Edition)
ich mich und damit mein Schreiben? Wahr ist ja, daß mich mehr interessiert, sogar regelrecht erregt, wenn ich – vor ein paar Tagen – diesen jungen Maxim Vengerow einige Tschaikowsky-Partiten spielen höre, wie ich überhaupt noch nie Violine gehört habe, geradezu existentiell aufwühlend, wie dieser junge sibirische Jude den schön gestrichenen Schmerz des alten Petersburger Schwulen – – – – MEHR, sehr viel mehr aufregt als eine eigene Erektion. Das mir ewig im Ohr dröhnende Frisch-Wort «Leben ist langweilig, Abenteuer gibt es nur auf dem Papier» (oder so ähnlich) ist ja zur Überschrift meines Lebens geworden. So kann der Vorwurf, es kämen zu viele «gebildete» Namen und Assoziationen vor, zwar einerseits eben zurückgereicht werden auf – deswegen verdrossen reagierende – Kritiker, die wirklich nicht wissen, wer René Gruau ist (schon der in Sachen Kunst extrem ungebildete Hans Mayer war anno dunnemals sauwütend über eine Anspielung auf Delvaux in meiner Habilitations-Schrift, weil: «Den Namen habe ich noch nie gehört und in keinem Literatur(!!!!!!)lexikon gefunden.»).
Hochheikler Vorgang: Bin ich eventuell nur erotisch so entflammt, weil dieser junge (übrigens gar nicht so junge, 40jährige) Redakteur mich AM KOPFE packt, weil er von meinen Arbeiten spricht, viele kennt, viele mag (oder so tut), weil sich, bevor das Essen überhaupt auf dem Tisch stand, ein ganzes Gewebe von Adorno zu Jünger zu Botho Strauß verspinstete? Es wirkte wie eine Wärmetherapie, floß vom Hirn durch den Solarplexus in den Schwanz, der unter dem Tisch stand, während wir Champagner tranken und über Heinrich Heine sprachen.
Und wenn das so ist respektive WEIL es so ist – – – – irre ich mich auch so rasch. Wenn dieser arme Mensch wüßte, was da in mir vorgeht – der doch nur mal mit dem so viel Älteren, so viel Berühmteren plaudern wollte, sich über meine Freundlichkeit freute, weil die Anderen im Haus so unfreundlich sind, und der sich gewiß mit dem leicht koketten Satz «Bis morgen früh» auf meine Frage «Haben wir etwas Zeit?» gar nichts Böses (Schönes) dachte.
2. März
Den Verkehr mit der präpotenten Mondänen abgebrochen, die mehr und mehr «die Geist-Ziege» wurde, wie Thomas Mann seine amerikanische Gönnerin nannte; nur, daß die sich UM IHN kümmerte, während diese reiche Dame das noch VON MIR erwartet.
Selbst Annäherungen haben etwas Pseudohaftes. So war am Montag der nette Kurt Drawert hier zum Frühstück, der immerhin von allerlei Preisen anerkannte und durch allerlei Stipendien abgestützte Lyriker, dessen Arbeit ich durchaus schätze und der mir auch persönlich sympathisch. Nur: Er spricht NUR von sich, hält Einwürfe über MEINE Situation offensichtlich für peinlich-unangebracht (weil ich mein Steak zahlen kann) und bemerkt gar nicht die Widersprüche in seinen Schatten-Klagen: daß er ein sehr aufwendiges Auto fahre; daß er eine wunderschöne große Altbauwohnung in Darmstadts renommiertem Jugendstilviertel habe; daß seine Frau «selbstverständlich» auch verdiene, da Fotografin.
Aber wieso denkt so jemand, man könne von «Beruf Lyriker» sein? Wieso sieht er nicht den Unterschied, daß ich zwar AUCH ein teures Auto, eine große Wohnung habe – sie mir aber ausschließlich selber erarbeitet habe – da ein Vortrag, da eine Sendung, hier ein TVfilmchen? Und – mal abgesehen von MIR – wieso sieht er nicht, daß kein Celan und kein Benn (und kein Kafka) von ihrer Literatur leben konnten, daß es für derlei kein «soziales Netz» gibt und gab, daß er eben ARBEITEN müßte? Dann sei er zu be-, gar überlastet, könne dann nicht mehr schreiben. Wieso konnten die Anderen?
Derlei widerständliche Gedanken trüben dann doch den Genuß am Gast.
3 Tage später Abendessen mit Gaus, der immer erst nach der ersten Stunde erträglich wird, wenn er seine Eitelkeit hat abregnen lassen und seine Kommandos – «Das ist dumm»; «Angelschellfisch ohne Senfsauce ist …»; «Rote Grütze ohne Sago ist …»: was alles ein Kellner über sich ergehen lassen muß – losgeworden ist. DANN gelang ein erwachsenes Gespräch, z. B. über die Gorleben-Proteste, über «Das Gewaltmonopol liegt und muß liegen beim Staat», über: «Wieso akzeptieren wir den Gesetzesbruch, wenn wir mit ihm sympathisieren, und würden laut schreien, gar nach der Polizei, wenn es ein Gesetzesbruch von Rechts wäre, wenn mit demselben Gewaltpotenzial die Münchner Wehrmachtsausstellung gestürmt
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