Tagebücher: Jahre 1982-2001 (German Edition)
nur «Meinungen» haben (etwa Carl Schmitt oder Jünger feiern), sondern auch direkte (Zeitungs-)Politik damit machen respektive zu machen versuchen.
22. März
Paul, mit dem süßen Blick fürs Böse, sagt am Telefon: «Erinnern Sie sich noch, mein Lieber, an Ihr schönes Fest am Leinpfad? Die Hälfte der Gäste ist inzwischen tot …»
Tatsächlich, er meint meinen großen Abend für Ernst Bloch («Wie hieß noch der Blinde mit der Jüdin?» …): Ernst Fischer, Feltrinelli, Giese, Johnson, Bauke, Fichte.
Schauerlich.
Meine Phantasie reicht noch immer nicht aus, mir Fichte richtig tot vorzustellen, daß er nie wieder blühende Forsythien sieht, einen lila Krokus oder mit mir Austern ißt. Einfach vorbei. Zu seltsam. Schlimm, wie er jetzt bereits ein Mythos wird. Wie er gleichsam auf den Schultern der anderen Frühverstorbenen – Brinkmann, Konrad Bayer, Born – zu einer Mischung aus Rimbaud, Platen, Malaparte und Oscar Wilde wird.
Aber auch Literaturgeschichte schreibt sich eben willkürlich. Beendete gestern Hans Werner Richters Schmetterlings-Ensemble über einige seiner «Freunde» aus der Gruppe 47; rundum schlampig, dünn, falsch, oberflächlich das Ganze. Der Mann hat etwas getan, was er selber nicht begriffen hat – an den (wo steht das?) Menschen erinnernd, der nicht weiß, daß er Prosa schrieb. Ich muß mir so manche Details – etwa meine Freundschaft mit Uwe Johnson – direkt mühsam wieder ins Gedächtnis rufen, um nicht vor mir selber als Wichtigtuer und Ranmacher dazustehen. Aber schließlich, um nur EIN Beispiel zu geben, gibt’s ja noch die Fotos, wie Johnsons Tochter hier bei mir zu Besuch war, mit dem Neffen Peter, bei Wunderlichs auf dem Lande (lachend auf dem Rolls-Royce thronend und weinend am Flugplatz bei der Rückfahrt: «Bei dir ist es so schön, Onkel Fritz, bei dir wird so viel gelacht – bei uns nie»).
25. März
Wo sind eigentlich all die Braschs und Jürgen Beckers und Rühmkorfs? Manchmal komme ich mir vor wie Brandt nach seinem Rücktritt, als 2 Minuten danach keine Kamera mehr auf ihn gerichtet war; zu Ostern keinen EINZIGEN Gruß von irgendwem.
Gestern abend STAMMHEIMfilm – meiner Meinung nach eine linke Demagogie, die Sympathie wird OPTISCH und metapsychologisch ausschließlich auf die Seite der «armen» Terroristen geleitet – als haben die nicht Menschen umgebracht. Sehr geschickt, weil verbal nicht fixierbar, nur unterschwellig.
Da gibt es eine schweigende Vereinbarung (ähnlich dem Einbruch des Jens-Bürschleins bei Johnson). Dafür fallen sie über Grass her. Widerlich.
9. April
Den Abend sehr amüsant und berlinisch verlebt, mit Grassà deux gegessen, was, wie mit Paul, immer am schönsten und intensivsten ist, er ganz rührend: «Ich habe vorgesorgt, habe genug Geld bis zum Schluß, ich bin ja ein Krämer – ich habe alles in festverzinslichen Papieren angelegt, das ist nicht viel und nicht viel Gewinn, aber sicher. Also Stube und Suppe ist für dich immer da.»
Im Restaurant setzte sich ein fremder Mensch neben ihn, gratulierte zum Buch, sagte: «Ich muß Ihnen mein Leben erzählen», und auf Günters (diesmal) gutmütig-väterliches Abwiegeln: «Aber ich erzähle Ihnen doch auch nicht mein Leben» sagte der Mensch: «Schon, schon – aber ich bin Ihr Buch.» Einen so komischen Satz habe ich noch nie gehört. Es stellte sich auf Befragen heraus, daß er DIE RÄTTIN weder besaß noch gelesen hatte. Dafür stellte er uns seine junge Freundin vor: «Dufte Biene, Mensch, sahre ick dia.»
Der «Krämerssohn» Günter hatte aber noch eine Überraschung: Er hat sich am Ku-Damm eine permanente eigne Galerie eingerichtet (die natürlich ins Berliner Kulturprogramm aufgenommen wird; vermutlich halten die Stadtrundfahrtbusse demnächst dort …). Als die Freundin von Grass dort keinen Schnaps hatte, sagte sie: «Ick bein Nachban frahren», kam zurück, der Nachbar – 23 Uhr! – erwarte uns. Es öffnet eine Hosenverkäufertunte, dicklich-dümmlich-gemütlich, und ließ uns in ein «Stilmöbel»-Paradies (also eine Hölle) ein: 5 Zimmer wie ein Möbellager, nein, wie ein bösartiges Bühnenbild vollgestopft mit dem grauslichsten Zeug. Und auf jedem Stuhl, Sessel, Sofa – – – – eine Puppe. Berlin ist Berlin.
Jochen Mund … Ob er wirklich im Sterben liegt? Oder ob meine Phantasie inzwischen so stumpf, meine Vorstellungskraft so egomanisch geworden ist, daß ich mir den Tod naher Menschen nicht mehr vorstellen kann? Jedenfalls liegt er sehr kläglich
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