Tagebücher: Jahre 1982-2001 (German Edition)
Mittagessen, Vorlesung, Diskussion, Tee, dann Vortrag im Heinehaus (wo, sehr lieb, der alte Cioran saß und mich hinterher sehr beglückwünschte). Cioran ist schon ein merkwürdiger Mensch. Ganz weich, freundlich-liebenswürdig: «Sie sind ja ein rhetorisches Genie, das wußte ich garnicht», sagte er.
Am Wochenende den Nachruf auf Genet, der mich jetzt schon «drückt». Die Kreise des Lebens sind schon irr: Er stirbt knapp nach Fichte, 1 Tag nach der Sartre-Frau Beauvoir und am selben Datum wie Sartre, der ihn mit seinem Lobbuch erschlug und zum Schweigen brachte.
19. April
Die Savary-Inscenierung des BÜRGER ALS EDELMANN übrigens wie ein PS zu Augstein: der neureiche Niemand, der sich zum Gecken macht und über den alle lachen. Was bliebe von Augstein, zöge man seine Millionen ab? Niemand würde sich doch auch nur umdrehen nach ihm, geschweige denn bekäme er noch eine, und sei es die mieseste Puppe, ins Bett. Er hat zwar ’nen Picasso an der Wand – – – aber MICH fragt er: «Wen soll ich neben Madame Chirico setzen?» (lange her), als er Giorgio De Chirico zu Gast hatte. Ein Bündel aus gesellschaftlicher und (das heißt auch: ästhetischer) Unsicherheit wie alle Neureichen eben; und für die eigne Unsicherheit haßt er die anderen.
Nachmittags bei Kempowski, der eine Art «Gruppe 47»-Revival versucht: Er zusammen mit Guntram Vesper lädt allerlei Autoren ein, die vorlesen und, da er auch Kritiker wie mich oder Drews einlädt, auch kritisiert werden … übrigens zur Wut etwa von Karin Struck, die laut und ordinär die «kreative Atmosphäre» einklagt (was immer das sein mag); aber bezeichnend doch dieser Haßausbruch gegen Kritiker – dies Verhältnis (Autor – Kritiker) ist so gründlich zerrüttet wie noch nie. Schlagt ihn tot, den Hund, er ist ein Rezensent, das ist jetzt buchstäblich wahr.
Erwischte mich dabei, daß ich anfangs alles gräßlich und spießig und komisch fand – und es allmählich zu genießen begann. Hängt wohl mit meiner monologischen «Autoren»-Lebenssituation zusammen, ohne Redaktionsalltag. Erst dachte ich: «O Gott, auf MEINE kleinen Spiele, wie Ginster auf den Tisch stellen, um den Genet-Nachruf zu schreiben, kommt hier niemand» (weil Ginster auf Französisch Genet heißt). Aber dann war’s ganz kollegial-amüsant, und selbst kleine Skurrilitäten wie das männchenhafte Benehmen von Kempowski amüsierten mich nur noch. Er sitzt wie Hans Werner Richter auf einem großen Gründerjahresofa (als einziger, alle anderen auf unbequemen Stühlen), klingelt mit einer Glocke und bittet nicht nur um Ruhe, sondern auch um «pünktliches Erscheinen» und so. Als er die Struck z. B. bat: «Aber nur, wenn Sie sich kurz fassen», explodierte sie in ihrer gewaltsam aufgeschminkten Emanzipiertheit. «Bei uns Frauen dauert eben alles länger, wenn Sie das noch nicht bemerkt haben sollten – wie beim Geschlechtsverkehr –, wir brauchen länger, weil wir potenter sind.» Stimmt vielleicht sogar. Kempowski läßt sich den ganzen Tag von irgendwelchen jungen Mädchen bedienen, läßt sich beim Abendessen sogar die Stullen schmieren und den Wein bringen und erzählte, er habe sich «zwei so junge Dinger» engagiert, um mit ihnen 2 Wochen durch Frankreich zu reisen: «In zwei Wochen kann man ganz Frankreich erleben.» Hm. Seine papale Eitelkeit hat die Figura wie eine Figur von Kempowski – fällt der Name der Stadt Berlin, dann fällt ihm dazu nur ein: «Da war ich noch nie zu einer Lesung eingeladen.»
Sonntag abend in der «anderen» Molière-Aufführung, Goschs Menschenfeind. Sehr eindringlich-strikt – – – – und für mich insofern eigenartig, weil ich in dem stets die anderen belehrenden, moralisierenden X mich wiedererkannte. «O Gott, ich bin doch erst zwanzig – und da soll ich mich auf dem Lande vergraben?» seufzte Madame dort. Die Inscenierung auch deshalb so gut, weil sie den Strang Tragödie herausarbeitete (wenn auch diskret und leise), der unter jeder guten Komödie liegt.
28. April
Strange days with Faulkner: vier Tage (davon zwei wunderschöne Sonnentage, lesend auf der Terrasse), um die 2000-Seiten-Biographie über Faulkner zu lesen, Vorbereitung für die Reise in «sein» südliches Amerika. Beeindruckend und erschreckend. EIN VOLLKOMMEN STRIKTES Leben – aber falsch erzählt. Darf ein Biograph die persönlich-intimen Dinge GANZ auslassen? Hätte ich nun nichts anderes gelesen, dann erschiene er mir als treuer, wenn auch trinkender Familienvater –
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