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Tagebücher: Jahre 1982-2001 (German Edition)

Tagebücher: Jahre 1982-2001 (German Edition)

Titel: Tagebücher: Jahre 1982-2001 (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Fritz J. Raddatz
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krebsartige Krankheit, breite sich wie ein Steppenbrand aus, der Arzt habe ihr gesagt, es sei eine Frage von Tagen; er hat sie auch bei den letzten Besuchen nicht mehr erkannt, liegt stumm in seinen «schönen Locken», wie sie sagt, und verblutet (offenbar durch einen künstlichen Darmausgang?). Frauen sind anders: Die Mau berichtet das wie etwas Unabänderliches, sie schreit nicht, weint nicht, beklagt, daß er ihr «schönes Essen» und die teuren Blumen verschmäht. Frauen KÖNNEN einfach so was – wenn ich denke, wie ich auf dem Teppich rumrollte, schreiend und trinkend, als Eckfried tot war, und wie ich wochenlang nicht vernehmungsfähig war, nicht der Sprache mächtig, nach Bernds Tod.
    An dem Tag, an dem ich das Sterben von Fichte erfuhr – wird mein neuer, sehr edler und sonderbarer Wunderlich-Tisch geliefert, ekelhaft-absurd. Da stirbt ein Freund, ein seltsamer, verschrobener, schön-lügnerischer Mensch – – – und ich kaufe ein bizarres Möbel. So ist das Leben. Ist so das Leben? Und abends mit Gaus zum Essen, dessen Sätze, obwohl er ein wirklich kluger Mann ist, immer wieder so beginnen: «Ich und der spanische König waren in Bonn …» UND am Telefon einen quasi weinenden Grass. Kein Weltruhm und kein gefülltes Konto bewahren davor, sich grenzenlos zu kränken über die brutalen Vernichtungskritiken des neuen Buches.
    Was geschieht da mit uns allen, mal Hochhuth, mal Wunderlich, vor kurzem noch Böll, dann ich – – – – tutti quanti. Es sind doch WIR – jeder in seiner mehr oder minder wichtigen Bedeutung –, die die Kultur Nachkriegsdeutschlands GEMACHT haben? Und nun werden wir gleichsam abgeschafft, fast ermordet, sollen «die Klappe halten», nicht mehr schreiben, publizieren, malen, Interviews geben. Eine Umwertung aller tradierten Werte, eine Wende, viel tiefer als die propagierte, ein «Umbruch» – neue Fühl- und Denkweisen; aber welche? Wo sind die toll begabten Söhne, die die Väter ermorden MÜSSEN? Die Beliebigkeit ist das neue Gesetz, der neue Standard.
    Das «Ausrinnen» des Alten hat auch biographische Elemente: Meine Bekanntschaft und spätere Freundschaft mit Fichte z. B. BEGANN ja geradezu mit Wunderlich – als ich den jungen Autor, dem ich auf Grund einer Erzählung in der FAZ geschrieben hatte, im Brahmskeller das erste Mal traf (er: «Mein Gott, so jung – ich hatte Angst, der große Rowohltchef sei ein alter dicker Mann»), sagte er, er habe gerade über einen Hamburger Maler einen Essay geschrieben, dessen Namen ich gewiß nicht kennte, den er aber für den bedeutendsten seiner Generation hielte, sein Name sei Paul Wunderlich …
    Heute morgen trotz schwerer Erkältung schwimmen. Merkwürdiges Bild, wie die jungen glücklichen Väter da mit ihren winzigen Kindern spielen, sie hochwerfen, auffangen, sich tummeln wie junge Tiere. Und bald, sehr bald wird Krach und Unverständnis sein, die Jungen werden nix mehr wissen wollen von den Alten, gehen aus dem Hause. Die Alten werden die Frisuren oder Anzüge gräßlich finden. DAZU das alles? Wenn ich auch nur an Augstein und Maria denke: sie bildschön und jung, er intelligent, berühmt, sehr reich. Beide Kinder gut geraten, niedlich als Kinder, hübsch als junge Menschen, begabt. Und? Nur Elend, Chaos, Psychodrama und Psychoterror, er im Alkohol und Puff versunken, abgesunken zur Bedeutungslosigkeit, eine Witzfigur jeder Party, sie unsichtbar, am Leben nicht mehr teilnehmend, die Kinder «Erben». Fand heute diese Stelle bei Harry Graf Kessler, die GENAU auf Augstein trifft, aber auf den – artverwandten? – Harden geprägt ist: «Daß Harden Einsamkeit nötig gehabt habe, aber trotzdem politisch führen wollte, was ihn in einen unlösbaren, tragischen Widerspruche verwickelt habe. Auch keinen Freund habe er in seiner Nähe geduldet, sondern, sobald die Freundschaft enger wurde, einen Ausweg aus ihr, meistens durch wütende Feindschaft, gesucht.»
    BUCHSTÄBLICH die Beziehung zwischen Augstein und mir.
    Letztes Stichwort zum «biographischen Auslaufen»: der immer schlimmer werdende Krach, die tief-innere Auseinanderentwicklung mit der Mary, die mir auf meinen de-profundis -Brief dürre und dümmliche paar Zeilen schickt. Kann so eine jahrzehntelange Freundschaft enden? Und: Jochen Mund hat Darmkrebs. Das Ende also absehbar. Wie wird das sein, wenn ich da nicht mehr anrufen kann, nicht mehr traurig sein kann über seine Teilnahmslosigkeit? Selbst die war ja noch ein Stück Bindung.
    10. März
    Fichte ist tot.

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