Tai-Pan
dort zur Insel Hongkong, die die Barbaren uns geraubt haben.«
»Ich halte nicht viel von diesem Gebet«, sagte er. »Aber immerhin, meine Kleine, ist es mein Silber, und ich mag es nicht, wenn man mich einen Barbaren nennt.«
»Es ist ein höfliches Gebet und es sagt die Wahrheit. Es ist ein chinesischer Meeresgott. Für einen Chinesen bist du ein Barbar. Es ist äußerst wichtig, in Gebeten die Wahrheit zu sagen.« Sie ging mit Trippelschritten über das schräge Deck, hielt mit großer Mühe den schweren, in Papier gewickelten Silberbarren auf Armlänge von sich gestreckt, schloß die Augen und sprach das Gebet, das sie geschrieben hatte. Dann packte sie, die Augen noch immer geschlossen, den Silberbarren vorsichtig aus, ließ das Papier ins Wasser fallen und versteckte den Barren rasch in den Falten ihrer Jacke. Sie öffnete die Augen und beobachtete, wie das Papier vom Kielwasser des Schiffes in den Fluß hinabgesogen wurde. Dann arbeitete sie sich fröhlich wieder zurück, das Silber wohlbehalten in den Armen. »So. Jetzt können wir uns ausruhen.«
»Bei Gott, das ist doch ein Betrug!« rief Struan empört.
»Was?«
»Du hast das Silber nicht über Bord geworfen.«
»Pssst! Nicht so laut! Du uns alles verderben!« Dann flüsterte sie ihm zu: »Natürlich nicht. Hältst du mich für wahnsinnig?«
»Ich hatte geglaubt, du wolltest ein Opfer bringen?«
»Habe ich gerade getan«, flüsterte sie verwundert. »Du doch nicht etwa glauben, daß ich das Silber wirklich in den Fluß werfe, oder? Bei Gottes Blut, bin ich denn ein Stück Hundefleisch? Bin ich verrückt?«
»Warum dann aber das ganze Theater?«
»Pssst!« machte May-may beschwichtigend. »Nicht so laut! Der Meeresgott könnte dich hören.«
»Warum tust du so, als ob du das Silber über Bord wirfst? Das ist kein Opfer.«
»Ich schwöre bei Gott, Tai-Pan, jetzt ich dich überhaupt nicht mehr verstehen. Wofür brauchen Götter richtiges Silber, heja? Wofür sollten sie echtes Silber verwenden? Um richtige Kleidung und richtige Nahrung zu kaufen? Götter sind Götter. Und Chinesen sind Chinesen. Ich habe das Opfer dargebracht und dir das Silber gerettet. Ich schwöre bei Gott, die Barbaren sind seltsame Menschen.« Dann ging sie wieder nach unten und murmelte im Dialekt von Su-tschou vor sich hin: »Als ob ich so viel Silber vernichten würde! Bin ich eine Kaiserin, daß ich Silber wegwerfen kann? Ajiii jah«, rief sie und betrat den Gang, der zum Laderaum führte. »Nicht einmal die Teufelskaiserin würde so verrückt sein!« Sie legte das Silber in die Bilge zurück, wo sie es weggenommen hatte, und stieg wieder an Deck.
Struan hörte sie zurückkommen. Noch immer murmelte sie gereizt etwas auf chinesisch.
»Was sagst du da?« fragte er.
»Bin ich so verrückt, so viel schwerverdientes Geld zu vergeuden? Bin ich eine Barbarin? Bin ich eine Verschwenderin?«
»Schon gut. Aber ich verstehe noch immer nicht, wieso du glauben kannst, der Meeresgott würde auf deine Gebete eingehen, wenn er so offensichtlich betrogen wird. Das Ganze ist doch ungemein töricht.«
»Wirst du wohl so etwas nicht so laut sagen«, entgegnete sie. »Er hat sein Opfer. Jetzt wird er uns schützen. Es ist doch nicht das echte Silber, das sich ein Gott wünscht, nur die Idee als solche. Und die hat er bekommen.« Sie warf den Kopf zurück. »Die Götter sind wie die Menschen. Sie glauben alles, wenn man es ihnen nur richtig sagt.« Dann fügte sie hinzu: »Vielleicht ist der Gott auch unterwegs und hilft uns also auf keinen Fall. Dann werden wir sinken, macht nichts.«
»Noch etwas«, fuhr Struan hartnäckig fort, »warum sollen wir eigentlich flüstern? Es ist doch ein chinesischer Meeresgott. Wie, zum Teufel, kann er Englisch verstehen, heja?«
Das verwirrte May-may. Sie furchte die Stirn und dachte angestrengt nach. Dann zuckte sie die Achseln. »Ein Gott ist ein Gott. Vielleicht sprechen Götter die Barbarensprache. Möchtest du noch etwas Tee?«
»Bitte.«
Sie schenkte seine und ihre Tasse voll. Dann schlang sie die Hände um ihre Knie, ließ sich auf einer Luke nieder und summte ein kleines Lied.
Die Lorcha wiegte sich schwerfällig in der Strömung des Flusses. Die Dämmerung kam.
»Du bist schon eine tolle Frau, May-may«, sagte Struan.
»Ich mag dich auch.« Sie schmiegte sich an ihn. »Wie viele Menschen gibt es in deinem Land?«
»Ungefähr zwanzig Millionen. Männer, Frauen und Kinder.«
»Man sagt, es gibt dreihundert Millionen Chinesen.«
»Das
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