Tai-Pan
ankerte. Es war ein kleines Schiff mit einer behaglichen Kajüte aus dünnen Schilfmatten, die über gebogene Bambusstangen gespannt waren. Der Fischer und seine Familie waren Hoklos, Menschen, die ihr ganzes Leben auf Booten verbrachten und nur selten, wenn überhaupt jemals, an Land gingen. Er konnte erkennen, daß sich vier Erwachsene und acht Kinder im Sampan befanden. Einige der Kinder waren mit Stricken um die Hüften am Boot festgebunden. Das waren die Söhne. Töchter wurden nicht angebunden, denn sie waren wertlos.
»Wann, meinen Sie, können wir nach Macao zurückkehren, Mr. Struan?«
Er wandte sich um und lächelte Horatio an. »Wahrscheinlich morgen, mein Junge. Aber ich nehme an, daß Seine Exzellenz Sie für die Besprechung mit Ti-sen morgen braucht. Es wird noch mehr Dokumente zu übersetzen geben.«
»Wann ist die Besprechung?«
»Ich glaube, in drei Tagen.«
»Wenn Sie ein Schiff hätten, das nach Macao ausläuft, könnten Sie dann meiner Schwester einen Platz an Bord verschaffen? Die arme Mary ist nun seit zwei Monaten auf einem Schiff.«
»Nur zu gern.« Struan fragte sich, was wohl Horatio tun würde, wenn er die Wahrheit über Mary erführe? Struan wußte seit etwas mehr als drei Jahren über sie Bescheid …
Er war über einen von Menschen wimmelnden Marktplatz in Macao gegangen, als ein Chinese ihm plötzlich ein Stück Papier in die Hand schob und davoneilte. Es war eine Mitteilung auf chinesisch. Er hatte Wolfgang Mauss das Papier gezeigt.
»Es ist die Beschreibung des Weges zu einem bestimmten Haus, Mr. Struan. Und die Botschaft lautet: ›Der Tai-Pan von Noble House braucht um seines Hauses willen besondere Informationen. Kommen Sie heimlich zum Nebeneingang und zwar in der Stunde des Affen.‹«
»Wann ist die Stunde des Affen?«
»Um drei Uhr nachmittags.«
»Und wo ist das Haus?«
Wolfgang Mauss erklärte es ihm und fügte dann hinzu: »Gehen Sie nicht hin. Es ist eine Falle, verstehen Sie. Vergessen Sie nicht, daß eine Prämie von hunderttausend Taels auf Ihren Kopf ausgesetzt ist.«
»Das Haus liegt nicht im Chinesenviertel«, hatte Struan geantwortet. »Bei hellichtem Tag könnte es gar keine Falle sein. Trommeln Sie meine Schiffsmannschaft zusammen. Falls ich in einer Stunde nicht wieder heil draußen bin, kommen Sie mich holen.«
So war er hingegangen und hatte Mauss und die bewaffnete Schiffsmannschaft in der Nähe und, falls notwendig, bereit zum Einschreiten zurückgelassen. Das Haus lag mit anderen in einer Reihe in einer stillen, mit Bäumen bestandenen Straße. Struan hatte es durch eine Tür in einer hohen Mauer betreten und war in einen Garten gelangt. Eine chinesische Dienerin erwartete ihn, adrett gekleidet in schwarze Hose und schwarze Jacke, das Haar zu einem Knoten aufgesteckt. Sie verneigte sich und machte ihm ein Zeichen, sich still zu verhalten und mit ihr zu kommen. Sie ging ihm voraus durch den Garten ins Haus hinein, eine Treppe hinauf und in ein Zimmer. Er folgte ihr vorsichtig, jederzeit einer Überraschung gewärtig.
Das Zimmer war luxuriös eingerichtet: Die getäfelten Wände waren mit Teppichen behängt, Stühle, Tisch und Möbel bestanden aus chinesischem Teakholz. In diesem Zimmer roch es eigentümlich sauber, und ein feiner Hauch zarten Räucherwerks lag in der Luft. Das Fenster ging auf den Garten hinaus.
Die Frau durchquerte den Raum und entfernte an der einen Längswand ein Stück der Täfelung. In der Wand war ein winziges Guckloch. Sie lugte hindurch und machte ihm dann ein Zeichen, es ebenfalls zu tun. Er wußte, daß es eine alte chinesische List war, einen Feind dazu zu verleiten, sein Auge an ein solches Loch in der Wand zu drücken, während auf der anderen Seite jemand mit einer Nadel wartete. So hielt er mit seinem Auge etwas Abstand vom Loch. Trotzdem konnte er das andere Zimmer deutlich übersehen.
Es war ein Schlafzimmer. Wang Tschu, der beleibte Hauptmandarin von Macao, ruhte nackt auf dem Bett und schnarchte. Neben ihm lag Mary, ebenfalls nackt. Sie hatte die Arme unter dem Kopf verschränkt und starrte zur Decke empor.
Struan beobachtete sie fasziniert und entsetzt. Nun stieß Mary Wang Tschu träge in die Seite, streichelte ihn wach, lachte und unterhielt sich mit ihm. Struan hatte bisher keine Ahnung davon gehabt, daß sie Chinesisch konnte, und dabei kannte er sie so gut wie kaum ein anderer – mit Ausnahme ihres Bruders. Sie läutete mit einer kleinen Glocke, und ein Dienstmädchen kam herein und begann, dem
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