Tai-Pan
die China Cloud ihren Ankerplatz. Die See war still, und der Wind wehte stetig aus Osten. Als sie jedoch zwei Stunden auf hoher See waren, frischte die Brise auf; Struan ließ May-may in der großen Kajüte allein und begab sich an Deck.
Orlow betrachtete prüfend den Himmel. Er war klar bis zum Horizont, nur über dem Festland türmten sich Kumuluswolken auf. »Von dort droht keine Gefahr«, sagte er.
»Von dort ebenfalls nicht«, meinte Struan und deutete aufs Meer. Er schlenderte das Deck entlang und enterte in die Wanten der Fock. Mühelos stieg er hinauf. Es war herrlich, den Wind zu spüren, der an den Kleidern zerrte. Er hielt erst inne, als er oben war und sich gegen die Falleinen der Bramsegel am Topp stemmen konnte.
Mit den Augen suchte er See und Himmel ab nach einem Sturm, der irgendwo lauern mochte, nach einem verborgenen Riff oder einer auf der Karte nicht verzeichneten Untiefe. Aber bis zum Horizont waren keinerlei Gefahrenzeichen zu erkennen.
Einen Augenblick lang überließ er sich der Freude an der Geschwindigkeit, am Wind und an der Grenzenlosigkeit des Ozeans und segnete seinen Joss, der ihm May-may wiedergeschenkt hatte. Es ging ihr schon viel besser – noch immer war sie zwar schwach, aber bereits weit kräftiger als am Vortag.
Er betrachtete prüfend die Takelage, soweit er sie überblicken konnte, und suchte nach einem Schaden oder einer schwachen Stelle; dann stieg er hinunter und kehrte aufs Achterdeck zurück. Eine Stunde später frischte der Wind erneut auf, und der Klipper legte sich stärker über, so daß der Gischt bis zu den unteren Segeln hinaufsprühte.
»Ich bin froh, wenn ich heute abend in den Hafen einlaufe«, sagte Orlow unruhig. »Sie spüren es also auch?«
»Ich spüre gar nichts. Ich weiß nur, daß ich froh bin, wenn ich heute nacht im Hafen liege.«
Orlow spuckte nach Lee und schob den Priem auf die andere Seite. »Die See ist gut, der Wind gut, der Himmel klar – und dennoch braut sich irgendwo eine Teufelei zusammen.«
»In diesen Gewässern braut sich immer etwas zusammen.«
»Mit Ihrer Genehmigung werden wir reffen, und der Handloter soll die Wassertiefe ausrufen. Man weiß nie, vielleicht ist da draußen doch eine Untiefe oder eins dieser gemeinen Riffe, die einem den Bauch aufschlitzen.« Orlow erschauerte und schloß seine Seemannsjacke, obwohl es ein warmer Tag und der Wind nicht zu heftig war.
»Tun Sie das.«
So wurde der Handloter nach vorn geschickt; er rief die Messungen aus. Die Mannschaft enterte auf und reffte die Royalsegel.
Spät am Nachmittag lief die China Cloud wohlbehalten in den westlichen Sund ein. Die Insel Hongkong lag backbords, das Festland steuerbords. Es war eine ideale Fahrt ohne jedes Mißgeschick gewesen.
»Vielleicht werden wir nur alt«, sagte Struan und lachte kurz auf.
»Je älter man wird, desto mehr Mühe gibt sich die See, einen zu holen«, antwortete Orlow ruhig und blickte zurück auf die offene See. »Wäre nicht mein schönes Schiff, ich würde heute noch abheuern.«
Struan ging zum Ruder. »Ich löse Sie für einen Törn ab, Rudergast. Gehen Sie nach vorn.«
»Jawohl, Sir.« Der Matrose ließ ihn auf dem Achterdeck allein.
»Warum?« fragte Struan Orlow.
»Ich spüre, wie die See mich beobachtet. Sie läßt einen Seemann niemals aus den Augen und stellt ihn immer wieder auf die Probe. Aber dann kommt eine Zeit, in der sie ihn anders betrachtet – eifersüchtig, ja, sie ist dann eifersüchtig wie eine Frau. Und ebenso gefährlich.« Orlow spuckte den Priem über Bord und spülte sich den Mund mit dem kalten Tee aus dem Leinwandsack, der in der Nähe des Kompaßgehäuses hing. »Niemals zuvor habe ich den Pfarrer gespielt und jemand getraut. Das war ungeheuer seltsam – wirklich sehr seltsam, Grünauge, die beiden da vor mir so jung, so unbeschwert und zuversichtlich. Und dann kommt Ihr Echo: ›Orlow, Sie werden uns trauen! Ich bin Herr auf der China Cloud. Sie kennen doch das Gesetz des Tai-Pan!‹ Und da stand ich nun, voller Wut, weil es mir so gegen den Strich ging, ihm Gesicht zu geben. Und dabei wußte ich doch die ganze Zeit über, das alte Grünauge ist hier derjenige, der die Fäden in der Hand hält.« Orlow lachte in sich hinein und blickte zu Struan auf. »Aber ich habe meine Rolle gut gespielt und mich von ihm herumkommandieren lassen – so wie Sie das wollten. Das war sozusagen mein Hochzeitsgeschenk für den jungen Mann. Hat er Ihnen von unserer Abmachung erzählt?«
»Nein.«
»›Trauen
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