Tai-Pan
May-may holte den Nachttopf hervor und übergab sich. Struan ließ rasch heißes Wasser aus dem Kessel über ein Handtuch laufen und klopfte damit sanft auf May-mays Rücken. Als sie fertig war, wischte er ihr zärtlich das Gesicht ab und ließ sie den Mund mit warmem Wasser ausspülen. Dann hob er sie auf, legte sie ins Bett und wollte sie verlassen. Aber sie klammerte sich an ihn und begann zu weinen – ein Weinen, das aus der Tiefe der Brust aufstieg und allen Haß wegschwemmte.
Struan beschwichtigte und beruhigte sie, bis sie eingeschlafen war. Dann stand er auf und löste Brock bei der Wache ab.
Um zwölf Uhr wurde noch eine Besprechung abgehalten. Viele sprachen den Wunsch aus, sofort aufzubrechen. Aber Struan setzte sich Brock gegenüber durch und überredete die Kaufleute dazu, bis zum nächsten Tag zu warten. Nur widerwillig erklärten sie sich einverstanden und beschlossen, um der gemeinsamen Sicherheit willen in Struans Faktorei überzusiedeln. Cooper und die anderen Amerikaner kehrten in ihre eigene Faktorei zurück.
Struan stieg in seine Wohnung hinauf.
May-may empfing ihn leidenschaftlich. Später schliefen sie friedlich ein. Einmal erwachten sie gleichzeitig, und sie küßte ihn schläfrig und flüsterte: »Du recht, mich zu schlagen. Ich unrecht, Tai-Pan. Aber schlag mich niemals, wenn ich nicht im Unrecht bin. Denn auch du mußt einmal schlafen, und dann ich dich umbringen.«
Zur Zeit der Mittelwache wurde ihre Ruhe jäh gestört. Wolfgang Mauss donnerte an die Tür. »Tai-Pan! Tai-Pan!«
»Was ist?«
»Schnell! Herunterkommen! Sofort!«
Nun hörten sie die Menschenmenge, die auf den Platz drängte.
7
»Mein Vater hat Sie alle gewarnt, verdammt noch mal!« sagte Gorth, wandte sich vom Fenster des Speisesaals ab und drängte sich zwischen den Händlern hindurch.
»Wir haben schon früher mit Pöbelhaufen zu tun gehabt«, entgegnete Struan scharf. »Und sie wissen, daß sie stets unter Kontrolle sind und nur von den Mandarinen auf die Straße geschickt werden.«
»Ja, aber die waren nicht so wie diese da«, entgegnete Brock.
»Es muß ein besonderer Grund vorliegen. Noch kein Anlaß zur Sorge.«
Auf dem Platz unten stand eine wogende Masse von Chinesen. Einige trugen Laternen, andere Fackeln. Ein paar von ihnen waren auch bewaffnet. Und alle brüllten sie. »Es müssen zwei- bis dreitausend von den Kerlen sein«, sagte Brock und rief dann: »He, Wolfgang! Was schreien eigentlich diese heidnischen Teufel?«
»›Tod den teuflischen Barbaren!‹«
»Verdammte Unverschämtheit!« stieß Roach hervor. Er war ein kleiner Mann, der mit einem Sperling Ähnlichkeit hatte; seine Muskete war größer als er selber.
Mauss warf wieder einen Blick auf die Menge, sein Herz schlug dumpf und unruhig, sein Körper war mit Schweiß bedeckt. Ist dies Deine Stunde, o Herr? Die Zeit Deines unvergleichlichen Märtyrertums? »Ich gehe hinaus und rede mit ihnen, predige zu ihnen«, erklärte er mit belegter Stimme. Er sehnte sich nach dem Frieden, den ein solches Opfer schenken würde, und fürchtete es gleichzeitig.
»Ein anerkennenswerter Gedanke, Mr. Mauss«, sagte Rumajee freundlich, und seine schwarzen Augen bewegten sich nervös zwischen der Menschenmenge und Mauss hin und her. »Sie werden einem Menschen mit Ihrer Überzeugungskraft gewiß lauschen, Sir.«
Struan bemerkte die Schweißperlen auf Mauss' Stirn und seine unheimliche Blässe und fing ihn an der Nähe der Tür ab. »Das werden Sie schön bleibenlassen.«
»Es ist die Zeit gekommen, Tai-Pan.«
»So leicht werden Sie sich die ewige Seligkeit nicht erkaufen.«
»Steht es Ihnen zu, darüber zu urteilen?« Mauss wollte sich an ihm vorbeidrängen, aber Struan trat ihm in den Weg.
»Ich wollte damit sagen, daß der Weg zur Erlösung langwierig und voller Schmerzen ist«, fuhr er begütigend fort. Schon zweimal früher hatte er ein so sonderbares Verhalten bei Mauss beobachtet. Jedesmal war es vor einem Kampf mit Piraten geschehen, und später hatte dann Mauss während des Kampfes seine Waffen weggeworfen und war in religiöser Ekstase dem Feind entgegengegangen – er suchte den Tod. »Die Erlösung ist ein langwieriger Vorgang.«
»Der Friede des Herrn ist … ist schwer zu finden«, murmelte Mauss, und die Worte blieben ihm in der Kehle stecken. Er war froh, daß ihm einer entgegentrat, und haßte sich selber, weil er froh war. »Ich wollte nur …«
»Ganz richtig. Ich selber kenne mich auf dem Weg des Heils genau aus«, mischte sich
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