Taken
der schimmernden Kuppel. Vielleicht ist in der Stadt kein Platz mehr, oder es gibt nicht genug Wasser. Der Gedanke ist beängstigend, in Claysoot schien immer genug Regen zu fallen, und unser See und unsere Wasserläufe sind nie ausgetrocknet. Andererseits waren wir auch nur ein paar Hundert.
Die Straße quetscht sich zwischen zwei hohen Gebäuden hindurch, die bis hoch hinauf zur Kuppeldecke der Stadt beide mit vollkommen gleichen Papieren zugepflastert sind. Auf jedem Stück Papier ist das Gesicht eines Mannes abgebildet, der uns ansieht. Über seinen Ohren und seinem Nasenrücken liegt eine Art Schutzvorrichtung für die Augen mit einem dicken schwarzen Rahmen. Er trägt ein eigenartiges Band um den Hals, das über die Brust seines Hemds herabhängt. Das Bild ist auf der Höhe der Brust abgeschnitten, aber man erkennt, dass die Schultern des Mannes nach vorn gesackt sind. Er wirkt feingliedrig und zerbrechlich, als könne die leichteste Brise ihn umwehen.
»Was glaubst du, wie die gemalt worden sind?«, fragt Emma und zeigt auf den Mann. »Sie sind identisch, und sie wirken so real.«
»Vielleicht ist es ja keine Zeichnung.«
Beide sehen wir erneut die Bilder an, die vielleicht Zeichnungen sind. »Harvey Maldoon« steht unter jedem Bild und darunter noch mehrere Wörter in kleiner Schrift, die ich aber erst lesen kann, als Marco das Auto anhält, um Menschen über die Straße zu lassen. »Gesucht – lebendig – wegen Verbrechen gegen AmOst, darunter Aufwiegelung, Spionage und Hochverrat; Verbrechen gegen die Menschlichkeit, unter anderem Folter, Mord und unethisches wissenschaftliches Vorgehen.«
Die meisten der Wörter sind mir fremd, aber ich verstehe genug, um beunruhigt zu sein. Dank der Gesetze, die der Rat aufgestellt und durchgesetzt hat, gab es in Claysoot wenig Verbrechen. In unseren Schriftrollen ist nur ein Mordversuch verzeichnet, der nicht einmal gelungen ist.
Erneut sehe ich zu Harvey hinüber und versuche mir vorzustellen, wie ein einziger Mensch so viele schreckliche Dinge und noch mehr tun kann. Zuerst fand ich, er wirke schwach. Doch jetzt, nachdem ich die Beschreibung gelesen habe, sieht etwas an seinen Augen krank und verrückt aus. Mir gefällt nicht, wie sie mir zu folgen scheinen, während das Auto die Straße entlangfährt. Emma erschauert, und mir ergeht es nicht anders.
Wir verlassen die überfüllte Straßenschlucht, fahren noch ein paar Minuten weiter und erreichen dann ein Gebäude, das prächtiger als die anderen ist. Es liegt inmitten einer Rasenfläche, auf der jedes Hälmchen exakt gleich lang geschnitten ist, sodass alle Spitzen eine ebenmäßige Fläche bilden. Das ganze Gelände ist von einem metallenen Zaun umgeben, dessen komplizierte Muster so sorgsam und künstlerisch gestaltet sind, dass Blaine in Claysoot daran ein Leben lang hätte schmieden müssen. Das Gebäude selbst ist makellos. An merkwürdigen Stellen ist es eingebuchtet und wölbt sich dann wieder nach außen, wo Bogenfenster eingelassen oder skurrile Nischen eingefügt sind. Das Dach hat verschiedene Ebenen und wirkt wie eine Treppe zum Himmel. Die Formen sind alle verkehrt und doch faszinierend. Über einem gewaltigen Portal kann ich die Worte »Union Central« erkennen.
Als wir durch das Tor fahren, nickt ein Mann in Schwarz Marco zu. Marco steuert das Auto auf die Seite des Gebäudes, und wir versinken im Boden und gelangen in einen großen Raum voller abgestellter Autos. Als unser Gefährt zu grollen aufhört, steigt Marco aus, öffnet die hintere Tür und hockt sich neben uns nieder.
»Ich bin Marco. Das hier ist Pete.« Mit einer Kopfbewegung weist er auf seinen Partner, der jetzt draußen steht. »Entschuldigt, dass wir uns nicht eher vorgestellt haben, aber es war zu gefährlich.«
»Hier fühle ich mich aber auch nicht wirklich sicher«, denke ich laut. Die Bilder von einem gesuchten Verbrecher, rationiertem Wasser und Männern, die Waffen auf ihre eigenen Leute richten, stehen mir noch klar vor Augen.
Marco schnaubt. »Klar, macht euch bloß nicht die Mühe, uns zu danken. Wir haben euch ja nur das Leben gerettet.«
»Danke«, sagt Emma. Sie greift über mich hinweg und schüttelt Marco die Hand. »Ich bin Emma, und das ist Gray. Er scheint seine Manieren vergessen zu haben.«
Darüber lächelt Marco, aber es gefällt mir nicht, wie seine Lippen sich unaufrichtig verziehen oder wie er Emma von Kopf bis Fuß mustert.
»Vielleicht wäre ich höflicher, wenn man uns ein paar Erklärungen
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