Taken
Unterschrift; nur ein Tintenklecks prangt am unteren Ende des Pergaments.
Da ist die Information, die Frank sucht, gleich hier in diesem Brief. Dies könnte der Beweis sein, den er braucht; der Beleg dafür, dass meine geheim gehaltene Geburt den Ausschlag dafür gegeben hat, dass der Raub mich verschont hat.
»Kann ich das behalten?«, frage ich, ohne aufzusehen.
»Klar.«
Entlang der Knicke, die das Pergament bereits hat, falte ich es zusammen. Blaine gibt mir die erste Seite zurück, und ich stecke den vollständigen Brief in die Tasche. Es fühlt sich eigenartig an, endlich Mas ganzen Brief zu besitzen. Lange Zeit habe ich gedacht, wenn ich nur den ganzen Brief lesen könnte, würde alles einen Sinn ergeben. Aber ich bin immer noch genauso ratlos wie zuvor und voller quälender Fragen. Vor allem bin ich meinem Ziel, den Raub zu verstehen, keinen Schritt näher gekommen.
»Was war denn nun Carters Plan? Was habe ich zunichte gemacht, indem ich fortgegangen bin?«
»Nach Mas Tod hat Carter mich eingeweiht«, erklärt Blaine. »Sie sagte, wenn wir nicht zusammen geraubt würden, wollte sie einfach abwarten. Dann, wenn du an deinem neunzehnten Geburtstag geraubt würdest, hätte sie den Beweis dafür, dass der Raub auf irgendeine Weise auf den Daten in den Aufzeichnungen und nicht auf tatsächlichen Geburtsdaten beruht. Sie wollte mit Maude sprechen und anfangen, in größerem Stil die Geburtsdaten anderer Jungen geheim zu halten und ihnen damit Zeit zu erkaufen. Die Theorie auf die Probe stellen. Was daraus geworden ist, weiß ich nicht.«
Ich schnaube verächtlich, denn ich glaube nicht, dass es eine große Hilfe gewesen wäre, Maude davon zu erzählen. Nicht nach dem, was ich in der Nacht, als ich über die Mauer geklettert bin, gesehen habe. Ich will Blaine davon erzählen, aber er lässt mich nicht zu Wort kommen.
»Ich habe sie auch für verrückt gehalten. Meiner Meinung nach hatten beide Frauen den Verstand verloren, und ich habe nur geschwiegen, weil ich es Ma versprochen hatte.« Blaine sieht zu Boden und schaut dann wieder mich an. »Sie sagte, du würdest mir verzeihen, dass ich es dir verschwiegen habe.«
Ma hatte recht: Ich bin sein Bruder, und ich werde ihm verzeihen. Nur gerade jetzt bin ich nicht bereit dazu. Noch nicht. Unmöglich, weiterzumachen, als wäre alles ganz normal, nachdem man gerade gelesen hat, dass das eigene Leben eine Lüge war, dass man ein Experiment gewesen ist. Nichts an mir ist normal. Auch an dem Ort, an dem ich mich jetzt befinde, ist nichts Normales. Ich fühlte mich restlos und vollkommen verloren.
»Gray.« Noch eine Beteuerung, dass es ihm leidtut, ohne dass er die Worte wirklich ausspricht.
»Es ist nun einmal passiert, Blaine.« Ein verlegenes Schweigen tritt ein. Ich versuche mich daran zu erinnern, ob es das zwischen uns schon einmal gegeben hat, aber mir fällt nichts ein. »Dann weißt du also alles?«, fahre ich in dem verzweifelten Versuch, das Schweigen zu brechen, fort. »Über Claysoot? Und Harvey?«
Er nickt. »Und du?«
»Ja. Frank hat es mir erzählt.«
»Du bist ihm begegnet? Persönlich?«
»Wie hätte er es mir sonst erzählen sollen?«
»Ich habe alles in Videos gesehen.« Er muss meine verwirrte Miene bemerkt haben, denn er fährt fort. »Hier gibt es etwas, das Kamera heißt. Es ist wie ein Augenpaar, das alles sieht, und es kann sogar einen Teil dessen, was es wahrnimmt, aufzeichnen und auf Dauer festhalten, sodass man es später anschauen kann, wann man will. Ich glaube, sie haben Frank mit einer solchen Kamera aufgenommen – ihn über Claysoot sprechen lassen, seine Rede aufgezeichnet und sie mir gezeigt, als ich geraubt wurde. Septum und Craw haben das Gleiche gesehen. Frank ist so beschäftigt, dass er keine Zeit hat, sich nach jedem einzelnen Raub mit dem Jungen zu treffen. Es verwundert mich, dass er Zeit hatte, dich zu sehen.« Er hält ein paar Sekunden inne. »Wie ist er denn so?«, setzt er dann hinzu.
»Er ist wirklich nett.«
Blaine steckt die Hände in die Taschen. »Hoffentlich findet er bald heraus, was dahintersteckt. Jeden Tag denke ich an Kale. Ich muss sie dort herausholen.«
Als er von Kale spricht, muss ich an alle anderen denken, die immer noch hinter der Mauer gefangen sind, an Carter und Sasha und Maude. »Glaubst du, dass sie jetzt alle über die Mauer steigen werden?«, frage ich voller Panik. »Wenn Emma und ich die Ersten waren, die der Orden gerettet hat, bedeutet das, dass keine Leichen auftauchen
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