Talitha Running Horse
war nichts mehr zu machen, alle drei sind tot.«
Als ich Neils Blick suchte, sah ich, dass er es schon wusste. Während der Fahrt ins Krankenhaus hatte ich mir Gedanken darüber gemacht, was es bedeuten mochte, den Zorn von jemandem wie The Rat auf sich geladen zu haben. Aber alles war so schnell gegangen, war so aufwühlend gewesen, dass ich meine Angst verdrängt hatte. Nun, bevor sie wiederkommen konnte, erfuhr ich, dass es niemanden mehr gab, vor dem ich Angst haben musste.
Die beiden Polizisten forderten mich auf, ihnen alles, wirklich alles zu erzählen. Und das, während Neil dabeisaÃ. Hin und wieder warf ich ihm einen verstohlenen Blick zu, sah, wie sein Gesichtsausdruck sich ständig änderte. Von Zorn zu Angst, von Angst zu Ungläubigkeit, von Ungläubigkeit zu Hass und von Hass zu etwas, das ich nicht zu deuten vermochte, das aber auf irgendeine Weise mit ihm und mir zu tun hatte.
»Haben Sie gewusst, dass Ihr Sohn Mitglied einer der übelsten Jugendgangs im Reservat war?«, fragte Shortbull Tante Charlene. Ihre Hände wanderten unruhig auf dem Tisch umher.
»Ich wusste, dass er sich mit den falschen Leuten eingelassen hatte«, antwortete sie, »aber ich konnte nichts dagegen tun. Er hat nicht gehört auf mich. Er hat mich bestohlen und belogen und die Schule geschwänzt. Ich war machtlos.«
»Es gibt eine Selbsthilfegruppe im Reservat. Eltern, deren Kinder in Jugendgangs sind«, sagte George Horn Cloud. »Sie treffen sich regelmäÃig, um sich gegenseitig zu unterstützen und zu raten.«
Shortbull nickte. »Sie hätten sich an uns wenden können, Mrs Running Horse.«
»Was ist mit dem Vater des Jungen?«, fragte Horn Cloud. Er drehte unablässig seine Dienstmütze in den Händen.
»Frank ist im Irak gefallen«, sagte Charlene.
»Frank Running Horse?« Horn Cloud blickte fragend auf.
»Ja.«
»Ich kannte Frank«, erzählte der Polizist. »Er war ein guter Mann.« Charlene nickte und Tränen standen in ihren Augen. »Wenn Frank noch leben würde, dann wäre aus Marlin ein anständiger Junge geworden. Aber ich allein hatte nicht die Kraft.«
»Sie hätten sich Hilfe holen können. Soweit ich weiÃ, hatte Frank einen Bruder, der hier im Reservat lebt.«
Ich zuckte erschrocken zusammen. Dieser Bruder war niemand anderes als mein Vater. Was würde Charlene sagen? Dass Franks feiner Bruder einen WeiÃen um sein Geld gebracht hatte und dafür im Gefängnis schmorte, was gewiss kein gutes Beispiel für einen orientierungslosen Halbwüchsigen war?
»Mein Schwager ist in Kalifornien«, sagte Charlene. »Sein Trailer ist letzten Sommer abgebrannt, und er versucht dort Geld zu verdienen, damit er sich und seiner Tochter wieder ein Zuhause bauen kann.« Sie schwieg eine Weile und niemand sagte etwas. »Richard hat sich um Marlin gekümmert, als er noch da war«, fuhr sie schlieÃlich fort, »aber Marlin wollte nicht auf diejenigen hören, die es gut mit ihm meinten. Er hat sich für ein gefährliches Leben entschieden, und das ist ihm nun zum Verhängnis geworden.«
Ein eisiger Schauer rann über meinen Rücken, als wäre mir jemand mit einem Eiswürfel über die Haut gefahren. Tante Charlene redete ja beinahe so, als wäre Marlin schon tot â und sie der Ãberzeugung, dass er nichts anderes verdient hätte.
»Die Jungs wollten sich an Talitha vergreifen«, sagte Tom zu meiner Tante, und ich sah ihn überrascht an. »Marlin hat seine Cousine beschützt, obwohl er die Konsequenzen gekannt hat. Tief in seinem Inneren hat er sich seine Anständigkeit bewahrt.«
Ich sah, wie gut seine Worte meiner Tante taten. Tränen standen in ihren Augen, und ihr unglücklicher Blick rührte etwas in mir. Sie brauchte mich jetzt. Als ich sie gebraucht hatte, war sie nicht für mich da gewesen. Mit ihren unbedachten, verbitterten ÃuÃerungen hatte sie alles nur noch schlimmer gemacht. Aber wie sie dasaÃ, zusammengesunken und blass vor Kummer, konnte ich nicht anders als mit ihr fühlen.
»Dieses schreckliche Brandzeichen auf seiner Brust«, sagte sie kopfschüttelnd, »ich verstehe nicht, warum er so etwas tun konnte.«
Officer Shortbull nickte. »Ja. Kaum zu glauben, was diese Kids auf sich nehmen, um dazuzugehören. Jede Gang hat ihre eigenen Symbole, ihre eigenen Tätowierungen und
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