Talitha Running Horse
nicht mehr den überheblichen Marlin mimen musste, der er in Wahrheit gar nicht war.
Ich tröstete meine Tante, umarmte sie sogar manchmal, etwas, das ich nie für möglich gehalten hatte. Zu Hause saà sie auf der Couch vor dem Fernseher, hatte aber neuerdings oft den Ton abgestellt. Es war ein beunruhigender, ein gespenstischer Anblick, wie sie stumm auf den flimmernden Bildschirm starrte.
Ich tat mein Bestes, um sie abzulenken. Kochte für sie, aber sie aà nicht. Ich hielt das Haus sauber, fütterte die Hunde und kümmerte mich um die Wäsche, wenn ich nach der Schule nach Hause kam. Tante Charlene kommandierte mich nicht mehr herum und manchmal bedankte sie sich sogar bei mir für das, was ich tat. Doch meist hatte ich das Gefühl, als wäre sie gar nicht richtig wach.
Als ich mit Della darüber redete, sagte sie, dass meine Tante nun vieles hatte, worüber sie nachdenken musste. Ich sollte ihr einfach Zeit lassen.
26. Kapitel
Der Dezember kam, und Winterwolken zogen über die Hügel. Ich roch den Schneewind, wenn ich mit Stormy unterwegs war. Ihr Winterfell war dicht geworden, und nichts zeugte mehr davon, dass sie noch vor ein paar Wochen ganze Hautflächen verloren hatte.
Der Wind blies durch die kahlen Zweige der Pappeln, und noch fehlte der Schnee, der alles zudeckte und schützte. Der Big-Foot-Ritt rückte immer näher, und vor Aufregung konnte ich nachts kaum noch schlafen. Jeden Tag besuchte ich Stormy, um mich zu vergewissern, dass es ihr gut ging. Neil hatte Taté und Stormy seit Beginn des Monats besonderes Futter gegeben, damit sie für den Ritt auch genügend Reserven auf den Rippen hatten.
Della war in der Schule gewesen und hatte für Neil und mich eine Unterrichtsbefreiung erwirkt, denn der Ritt startete schon am 15. Dezember, ein paar Tage bevor die Weihnachtsferien begannen.
Am 14. Dezember war es dann endlich so weit. Tom hatte den Pferdetransporter bereitgestellt, und am Morgen liefen Neil und ich in die Hügel, um Stormy und den Hengst zu holen. Es war ein klarer, sonniger Tag mit Temperaturen knapp über dem Gefrierpunkt. Ein milder Winter bisher und das ideale Wetter für den Ritt.
Seit seinem Geburtstag â er war jetzt achtzehn â kam Neil mir noch erwachsener vor, und ich versuchte mich genauso ernsthaft zu geben wie er. Es kostete mich groÃe Mühe, vor Freude und Aufregung über die bevorstehende Reise nicht zu hüpfen oder zu singen. Der Ritt war eine ernsthafte Angelegenheit, und ich schwor mir, mich würdig zu erweisen.
Taté und Stormy kamen, als wir sie riefen. Wir streiften den Tieren nur Halfter über, schwangen uns auf die Pferderücken und ritten zurück zur Scheune.
Stormy lieà sich nur durch sanften Druck davon überzeugen, in den Hänger zu steigen. Es beruhigte mich, als ich merkte, dass auch Taté sich bockbeinig zeigte. Er kam erst, als Stormy ihn mit einem aufmunternden Wiehern rief. Ich musste lachen, aber Neil fand das überhaupt nicht lustig.
Della hatte uns gut mit Proviant versorgt und zwei Thermoskannen mit heiÃem Tee eingepackt. Wir luden unser Gepäck auf die Ladefläche des Trucks. Unsere Schlafsäcke, die Ersatzkleidung, die warmen Stiefel. Einer nach dem anderen umarmten wir Della, Bey und April.
»Mach dir um deine Tante keine Sorgen, Tally«, sagte Della Thunderhawk. »Ich werde mich um sie kümmern und sie Weihnachten zu uns rüberholen.«
»Danke«, sagte ich.
»Pass gut auf meine beiden Männer auf«, flüsterte sie mir ins Ohr.
»Mach ich«, flüsterte ich zurück.
Wir stiegen in den Pick-up und Tom startete den Motor. Stormy wieherte. Della und die Mädchen winkten. Neil und ich winkten zurück.
Nach einer mehrstündigen Fahrt über schnurgerade StraÃen trafen wir am Nachmittag auf John Knifes Ranch im Standing-Rock-Reservat ein. Es war ein Gebäudekomplex aus zwei Wohnhäusern und mehreren Scheunen und Ställen. Die Ranch lag eingebettet zwischen Hügeln, die von einer dünnen Schneeschicht bedeckt waren. Knife, auch ein Lakota, begrüÃte uns freundlich und half uns, Taté und Stormy aus dem Hänger zu holen und in einen Korral zu bringen. Er zeigte Neil, wo wir Wasser holen konnten und Heu für die Pferde. Ganz offensichtlich waren der Hengst und die Stute froh, dem engen Pferdehänger entkommen zu sein, wo jeder Huftritt ein donnerndes Geräusch verursachte.
Wir
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