Talitha Running Horse
an meinem Rücken. Er hatte einen Arm um mich geschlungen und ich fühlte mich restlos wohl mit ihm. Als ich versuchte, mich zu ihm umzudrehen, wachte er auf.
»Gut geschlafen?«, fragte er und lächelte mich verschlafen an.
»Ja«, sagte ich. »Und du?«
»Oh, ich bin am Boden zerstört.«
»Was? Aber wieso denn?«
»Na ja, ich muss als Liebhaber eine ziemliche Niete sein, wenn du dabei einschläfst«, sagte er und machte ein unglückliches Gesicht. Ich strich ihm lächelnd eine Haarsträhne aus dem Gesicht und sagte: »Ich war so müde, Neil. Und es war so schön, dass ich dabei eingeschlafen bin.«
Als wir später im Speisesaal frühstückten, merkte ich, wie gut es tat, mal eine Pause einzulegen. Jeden Tag waren wir bei Wind und Wetter gleich nach dem Frühstück aufgebrochen. Hatten die Pferde von den Eiskrusten befreit, ihnen das Zaumzeug angelegt und waren viele Meilen am Tag geritten, manchmal durch schwieriges Gelände. Wie anstrengend das gewesen war, fiel mir erst jetzt auf, als alle entspannt ihren Kaffee tranken, erzählten, und niemand zum Aufbruch drängte.
Das Stück von Interior nach Wounded Knee, das jetzt noch vor uns lag, würde keine Herausforderung an unsere Körper, sondern eine an unsere Seelen sein, denn der Ritt näherte sich dem Ende. Und das Ende war das Massaker von Wounded Knee.
Neils Vater saà mit uns am Tisch und erzählte von einem Pferd, das vermutlich eine Lungenentzündung hatte und zum Tierarzt gebracht werden musste, damit es behandelt werden konnte.
Auch Leo saà bei uns. Er war nicht wie immer, das merkte ich sofort. Leo Little Moon versuchte seinen Kummer vor den anderen zu verbergen. Aber ich sah ihn. Ich spürte ihn. Ich fühlte mich schuldig.
Nachdem sie gegessen hatten, gingen Neil und sein Vater nach drauÃen, um nach den Pferden zu sehen. Neil gab mir keinen Kuss, als er ging. Vielleicht, weil er das vor seinem Vater nicht tun wollte, vielleicht tat er es auch nicht aus Respekt vor Leos Gefühlen.
Einige, die noch am Tisch gesessen hatten, räumten ihr Geschirr zusammen, und ich blieb mit Leo allein zurück. Ich wusste, dass es nun so weit war. Dass er eine Erklärung verdient hatte. Aber ich saà da mit gesenktem Kopf und brachte kein Wort heraus.
»Liebst du Neil?«, fragte Leo schlieÃlich.
Ich hob den Kopf und zwang mich ihn anzusehen. Aber sagen konnte ich noch immer nichts.
Leo sprach sehr leise: »Gestern Abend, da kam Neil zu mir und bat mich, mir einen anderen Schlafplatz zu suchen. Er wollte allein neben dir liegen. Er sagte, du wärst jetzt sein Mädchen.«
Ich schluckte beklommen. Das hatte Neil gesagt?
»Ja«, beantwortete ich ihm endlich seine erste Frage. »Ich liebe Neil Thunderhawk, schon seit ich ihn kenne.«
»Und was ist mit mir, Tally?«
»Du bist mein bester Freund, Leo. Ich mag dich sehr gern. Du hast mir immer wieder Mut gemacht und mich zum Lachen gebracht. Es tut mir weh, dass du traurig und enttäuscht bist.«
»Mir tut es auch weh, Talitha, denn ich liebe dich.« Er schwieg eine Weile und meinte dann: »Zugegeben, zuerst warst du wie eine kleine Schwester für mich. Du hast mich an Becky erinnert, und ich hatte das Gefühl, dich beschützen zu müssen. Aber dann habe ich dich besser kennen gelernt. Du brauchst niemanden, der dich beschützt, Tally. In deinem Inneren ist eine Stärke, die ich selber gerne hätte.« Er senkte den Kopf und sagte leise: »Ich hatte gehofft, dass wir eines Tages zusammen sein würden.«
»Aber â¦Â«Ob er ahnte, wie unwohl ich mich fühlte? Wie schwer seine Worte auf mir lasteten? Wie Steine â¦Â»Aber du hast nie â¦Â«, ich stockte â¦
»Nein, habe ich nicht. Du warst vierzehn, Tally, als ich dich auf dem Sonnentanzplatz traf. Und jetzt bist du sechzehn. Es dauerte eben eine Weile, bis ich begriff, dass meine Gefühle für dich nicht die eines Bruders sind.«
»Das habe ich nicht gewusst, Leo. Sonst hätte ich ⦠«
»Schon gut«, sagte er. »Wie es aussieht, hast du deine Wahl getroffen, und ich muss lernen damit zu leben. Ich bin froh, dass du ehrlich zu mir warst, und hoffe, dass Neil deine Liebe wert ist.«
Mit diesen Worten lieà er mich am Tisch zurück. Ich sah ihm nach. Musste das so sein? Dass der Preis für mein Glück der Kummer eines anderen war? Konnte niemals etwas
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