Talivan (German Edition)
Augen erschien das verschwommene Bild eines Ma n nes, dann sank sie in das dunkle Vergessen.
Sie erwachte nur langsam, wie aus einem tiefen Traum. Die Welt vor Marjanas Augen blieb verschwommen, auch nachdem sie ein paar Mal geblinzelt hatte. Sie brauchte einen Moment, um die Frau zu erkennen, die vor ihr schwe b te. Natürlich, dachte sie, noch immer ein wenig schläfrig, wenn eine Seele diese Welt verließ, wurde sie ja stets von denen geleitet, die vor ihr gegangen waren. Nun also war ihre Mutter gekommen, um Marjana in die Welt hinter den Nebeln zu bringen. Alles war genau so wie in den alten G e schichten, die ihre Tante in den langen Winterabenden zu erzählen pflegte. Alles war, wie es sein musste.
Sie lächelte das verschwommene Bild ihrer Mutter an, be i nahe glücklich, bis sie endlich bemerkte, dass sie fror. E r schrocken zuckte Marjana zurück. Was geschah hier? Wie konnte sie frieren, wenn sie längst tot war? Erst jetzt drang auch der scharfe Schmerz in ihr Bewusstsein, der bei jedem Atemzug in ihrer Lunge brannte.
Mit einem Schlag fühlte sie sich wieder hellwach. Weshalb atmete sie? War sie im letzten Moment gerettet wo r den und das Gesicht ihrer Mutter nur eine Sinne s täuschung? Rasch sah Marjana sich um, konzentrierte sich dann auf ihre Hä n de und Füße, bewegte Arme und Beine. Fast schien es ihr, als sei sie noch immer unter Wasser, da sie jede Geste bedächtiger vollführte als sonst und den ungewohnten Wide r stand des Wassers zu spüren glaubte. Doch wie konnte sie dann atmen?
Erst als Marjana mit den Händen ihr Gesicht zu berühren versuchte, spürte sie, dass ihr Kopf vollständig in eine K u gel aus Luft eingehüllt war. Die Frau vor ihr, die nicht ihre Mutter sein konnte und es trotzdem zu sein schien, nickte b e ruhigend. Hinter ihr tauchte eine zweite Gestalt auf, ein fremder Mann, der dennoch merkwürdig vertraut wirkte. Als er die Hand um die Schulter ihrer Mutter legte, begann Marjana zu ahnen, wer er war. Und obwohl sie sich nicht vorstellen konnte, welches Wunder nötig g e wesen sein mochte, damit diese Liebe eine Frucht trug, fühlte sie doch, dass ihre Ahnung richtig war.
Der Mann bedeutete ihr, ihm zu folgen, und Marjana schwamm auf die beiden Flussgeister zu, von denen einer einst ein Mensch gewesen war, folgte ihnen immer weiter durch den See, während sie die Luft aus der Zauberkugel rings um ihren Kopf trank, bis sie gleich vor sich den Angelhaken entdeckte und mit zwei raschen Schwim m stößen der Leine folgte, die ihr den Weg zurück in ihre Welt wies.
Eine Zeitlang blieb sie noch neben dem Eisloch sitzen, o h ne auf ihren steifgefrorenen Körper zu achten, und konnte sich nicht entscheiden, ob sie sich mehr über ihr zweites Leben freute oder über das Wissen um das Wohl ihrer E l tern. Dann lief sie zurück zum Haus ihrer Tante.
Schon nach kurzer Zeit hatte sich im Dorf heru m gesprochen, dass Marjana fast im See ertrunken wäre, und einige ihrer Nachbarn kamen, um zu beteuern, dass sie Verstän d nis dafür hätten, wenn sie nie wieder fischen wolle.
Aber Marjana ging schon am nächsten Tag wieder zu dem namenlosen See und kehrte am Abend mit ebenso vielen Fischen zurück wie sonst. Sie hatte keine Angst vor dem Wasser, denn wann immer sie nun in die unergründliche Tiefe starrte, trug der See stets ihrer Eltern Gesicht.
Fionas Weg
In diesen Tagen gönnte sie sich selten Ruhe. Fiona wusste, wie viel für sie auf dem Spiel stand. Nur einmal im Jahr schickten Sephonis, der Meister der Laute, und die anderen Meister vom Grünen Turm ihre Gehilfen aus, um die b e gabtesten Anwärter aus den kleineren Türmen zu ihnen bri n gen zu lassen.
Seit mehr als drei Jahren war sie nun in einem dieser u n bedeutenderen Türme, zuerst nur, weil ihr keine andere Möglichkeit geblieben war, bis sie schließlich den Zauber e r kannt hatte, der in einer Melodie liegen konnte. Hatte sie zunächst nur die einzige Ausbildung gewählt, bei der sie noch keinen Grund zu versagen gewusst hatte, so ve r stand sie nun kaum mehr, wie sie jemals einen anderen Beruf hatte in B e tracht ziehen können. Die Musik war in ihr, um sie herum, hauchte ihrem Leben Atem ein, den bittersüßen Odem des wahren Lebens, wie ihn längst nicht jeder ve r spüren konnte.
Sie schüttelte wütend den Kopf, als sie ihre Finger bei e i nem raschen Griffwechsel wieder zu laut über die Saiten gleiten fühlte. Natürlich musste ihr Spiel nicht perfekt sein; wenn aus diesem Turm jemand
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