Talk Talk
nachdem sie sich so in Rage gebracht hatte, daß sie kaum noch atmen konnte, nachdem sie es an Bridger ausgelassen und gespürt hatte, wie ihr Magen sich vor Ärger, Haß und Frustration zusammenkrampfte, hatten sie ihn endlich vor sich: Er stand genau vor ihnen, dieser Frank Calabrese oder wie immer er hieß, in seinem Designerhemd mit Nadelstreifen, seinen Docs aus glänzendem, rotem Leder, er hatte das Jackett lässig über den Arm gehängt, und seine verlogene Frau und die Kleine standen neben ihm. Und er versuchte, sie niederzustarren, als wären sie diejenigen, die ihm etwas gestohlen hatten! Und dann drehte er sich um und ignorierte sie und ihre Rufe und Beschuldigungen, als wäre er ebenfalls taub. »Dieb!« schrie sie immer wieder. Sie sprang aus dem Wagen und rannte über den Parkplatz, mit fuchtelnden Armen, als wollte sie einen Luftangriff dirigieren, und sie dachte, sie hätten ihn, sie hätten ihn endlich, denn die Leute drehten sich nach ihr um, und irgend jemand würde die Polizei rufen, sie würde es tun, Bridger würde es tun, und der Kerl saß um halb zehn in der unbarmherzigen Hitze hier, auf dem Parkplatz, in der Falle, und es gab nichts, was er dagegen tun konnte. Ein Prickeln durchlief sie. Er war verloren. Er war kaputt. Er war im Arsch .
Dabei sagte alles an ihm, vom Wiegen der Schultern bis hin zur abweisenden Arroganz seines Gesichts, daß das alles überhaupt kein Problem war, keine große Sache – es ging ihn nichts an. Er schien ruhig und energisch, nahm das Kind auf den Arm, schob die Frau mit dem ausdruckslosen Gesicht rasch und zielstrebig zu seinem Wagen, und dabei wirkte er nicht aufgeregter als jemand, der nach dem Gottesdienst einen kleinen Spaziergang in der brütenden Hitze machte. Sie und Bridger bedeuteten ihm nichts, weniger als nichts, und dieser Gedanke erfüllte sie mit Haß. Hätte sie eine Pistole gehabt, dann hätte sie geschossen. Sie wäre dazu imstande gewesen. Sie glaubte wirklich, sie wäre dazu imstande gewesen.
Doch sie hatte etwas, was ihm gehörte: ein Beweismittel, ein Totem, ein Artefakt. Als der Mercedes die Betonschwelle überfuhr und über das Brachland raste, sah sie es auf dem Boden liegen, genau da, wo er eingestiegen war und die Tür zugeknallt hatte: sein Jackett. Er hatte es in der Eile zurückgelassen, fallen gelassen, vergessen. Sie schwitzte, ihr Herz hämmerte, sie verlangsamte ihre Schritte, bückte sich und hob es auf, bevor sie sich umdrehte und so schnell sie konnte zum Wagen zurückrannte.
Als sie hinter dem Leichenwagen hingen und Bridger auf die Hupe drückte, als sie sich aus dem Fenster beugte und schrie und gestikulierte wie eine Geisteskranke und die Straße sich weitete und der Mercedes davonzog und immer kleiner wurde, bis er nur noch ein Punkt war und schließlich – es war zum Verrücktwerden – ganz verschwand, lag das Jackett zu ihren Füßen auf dem Boden. Da lag es, während Bridger rechts und links überholte, die Notrufnummer wählte und dem Mann in der Zentrale etwas vorlog – »Ein betrunkener Autofahrer«, rief er in das Handy, »sternhagelvoll!« –, da lag es, während sie den langen Anstieg nach South Lake Tahoe hinauffuhren und sie auf die Straße starrte und hinter jeder Kurve erwartete, die blinkenden Lichter der Highway Patrol und Frank Calabrese in Handschellen zu sehen. Dann hatten sie die Stadt erreicht, fuhren langsam, suchten Parkplätze, Nebenstraßen und Motelgelände ab und musterten jeden Wagen, der ihnen begegnete, und sie war so angespannt, so konzentriert, daß sie keinen Gedanken an das Jackett verschwendete. Oder an die Platzwunde auf ihrer Stirn. Die war einfach da, ein Teil ihrer neu konfigurierten Welt.
Laut dem Schild an der Stadtgrenze lag Tahoe in 1898 Meter Höhe, und das Wetter war hier vollkommen anders. Auf den Bergen, die den See überragten, lagen Schneereste, der Himmel hing tief und schwer über ihnen, und die Luft, die das Gebläse in den Wagen drückte, war kühl. Bridger saß zusammengesunken am Steuer, lenkte mit den Handgelenken und sah abgekämpft aus. Lange sagten sie nichts. Der Wagen kroch an Geschäften, Supermärkten, Tankstellen, Wohnanlagen vorbei, eine Straße nach der anderen. »Machen wir uns nichts vor: Wir haben ihn verloren«, sagte Bridger schließlich und sah sie mit rotgeränderten Augen an. »Er könnte bei einem Freund in einer dieser Wohnanlagen sein oder in einem Casino in Stateline oder...« Er zuckte die Schultern und sagte etwas, was sie nicht
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