Talk Talk
war es trotz des Hochsommers irgendwie winterlich. In der feuchten Höhenluft lag der Himmel trüb über der Stadt, als wäre man nicht in Kalifornien, sondern an einem x-beliebigen anderen tristen Ort. In Tibet. War Tibet trist? Ihre Gedanken schweiften ab. Sie war müde und hungrig, und da kam das Thunfisch-Sandwich, das sie mit einer Stimme bestellt hatte, die die langen Vokale wahrscheinlich ebenso falsch aussprach wie die ungeheuer kniffligen Frikative (»und eine Portion Pommes frites«), denn die Kellnerin hatte sie angesehen wie eine Außerirdische, und sie fühlte sich wie ein Zirkustier an der Leine, aber das war ihr gleichgültig: Dies war ihr Leben, und sie konnte nichts daran ändern. Schon gar nicht in ihrer gegenwärtigen Verfassung. Außerdem mußte sie sich mit Bridger befassen: Sie hatte ihn da hineingezogen, und jetzt war er ebenfalls ein Opfer. ( Ich habe noch nie eine City-Bank-Karte besessen , sagte er, und sie stellte sich seine Stimme klagend, klein und schwach vor.) Bridger war ganz aus der Fassung – das war ja auch kein Wunder –, doch sie senkte den Blick auf ihr Sandwich und schloß ihn aus.
Seit sie den Zettel aus der Jackettasche gezogen hatte, redete er ohne Punkt und Komma. Wie hieß doch gleich das Wort dafür? Logorrhö . Ja, eine weitere Vokabel, die sie ihren Schülern einhämmern konnte, nur daß sie jetzt keine Schüler mehr hatte. Sie war wieder mal unterwegs, und unvermittelt mußte sie an die Gesprächsorgien denken, die sie im Wohnheim in Gallaudet veranstaltet hatten, hauptsächlich in Gebärdensprache, aber auch unterlegt mit laut gesprochenen Worten, die für einen Hörenden praktisch unverständlich waren, einer Art gesungenem Stöhnen. Reden, reden, reden. Das passierte, wenn Gehörlose zusammenkamen: Sie redeten, sie redeten unentwegt, sie redeten, wie Bridger jetzt redete, nur mit den Händen. Der Zeigefinger tippte an den Mund, um die Worte zu zeigen, die herauskamen. Wenn Gehörlose zusammen sind, reden und reden sie die ganze Zeit. Kommunikation, das universale Bedürfnis. Information. Zugang. Ein Ausweg aus dem Gefängnis der Stille. Talk Talk – reden, reden, reden.
Bridger legte seine Hand auf ihr Handgelenk. Es war der Arm, der gerade das Thunfisch-Sandwich zum Mund führen wollte. »Du machst diese Geräusche«, sagte er.
Sie sah sich um. Man beobachtete sie. Sie versuchte immer, den Impuls zu unterdrücken, aber es geschah beinahe unbewußt, wie von selbst, es war eine unter Gehörlosen sehr verbreitete Streßreaktion: Sie stieß einen leisen, hohen, durchdringenden Laut aus, als wäre sie ein gestrandeter Delphin. Es war ihr peinlich. Ihre eigene Kehle, ihr eigener Kehlkopf brachte diese Töne hervor, über die sie keine Kontrolle hatte. »Entschuldigung«, sagte sie und wiederholte es in Gebärdensprache: Die rechte Hand, Handfläche nach innen, kreiste langsam über dem Herzen.
»Du hörst mir nicht zu«, sagte er.
»Doch«, log sie.
Genervt und mit verkniffenem Gesicht wandte er sich ab und verdrehte die Augen, und das machte sie wütend, doch sie wollte keine Szene machen – diese Delphinlaute waren schon mehr als genug gewesen –, und so sah sie ihn neutral an und konzentrierte sich auf ihn. Was er sagte, lief im Kern darauf hinaus, daß sie beide todmüde und nicht imstande waren, hier und jetzt eine Entscheidung zu fällen (»Ich gehe nicht zurück«, unterbrach sie ihn, »und dieser Schweinehund wird nicht davonkommen, das schwöre ich dir, und wenn ich auf dem Bauch von hier nach New York kriechen muß – ich kriege ihn, hast du gehört?«), und daß es besser sei, in ein Motel zu gehen und sich auszuruhen und morgen früh zu entscheiden, wie es jetzt weitergehen sollte, denn es war nur frustrierend, herumzufahren und nach einem Wagen zu suchen, der inzwischen sonstwo sein konnte.
»Ich habe ihn schon einmal gefunden«, entgegnete sie. »Oder nicht?«
»Ja, ich weiß, Gehörlose haben so eine Art übersinnliche Wahrnehmung. Und es war wirklich erstaunlich, das gebe ich zu, aber du glaubst doch nicht im Ernst daran, oder?«
»Nein«, sagte sie.
»Denn falls doch, kannst du mir vielleicht sagen, was dieses Arschloch als nächstes tun wird. Vielleicht kannst du es visualisieren, vielleicht kannst du ihn sehen, wie er auf einem Highway dahinbraust, mit unserem Geld in den Taschen, jede Menge geschenktes Geld, alles umsonst – er braucht nicht nach dem billigsten Motel der Stadt zu suchen. Nein, er steigt einfach im Ritz Carlton ab, er
Weitere Kostenlose Bücher