Tallinn-Verschwörung
denn das Programm, auf das Torsten anspielte, war alles andere als legal. Allerdings hatte sie es nicht entworfen, um als Hackerin zu arbeiten, sondern um Schwachstellen in den gängigen Betriebssystemen aufzuspüren. Sie hatte es nur aus alter Freundschaft an Torsten weitergegeben, damit er den Mördern seiner Freundin auf die Spur kommen konnte. Allerdings wollte sie ihn auch jetzt nicht einfach im Stich lassen. Doch wenn sie helfen sollte, dann nur zu ihren Bedingungen.
»Wofür brauchst du es denn?«, fragte sie und ärgerte sich gleichzeitig über ihre Gutmütigkeit.
»Ich brauche dringend Papiere für mich und meine Begleiterin. Wir sind einer großen Sache auf der Spur, aber Wagner, dieser alte Bock, will nichts davon wissen. Aber es muss schnell gehen.« Torsten wollte noch mehr sagen, doch Petra hob die Hand.
»Das reicht schon. Wo bist du jetzt?«
»In Tirana, und zwar in der deutschen Botschaft.«
»Dann bleib auch dort. Ich sehe zu, was ich für dich machen kann. Servus derweil.« Petra schaltete ab, und Torsten starrte einige Augenblicke auf den dunkel werdenden Bildschirm.
Mit einem misslungenen Lachen blickte er sich dann zu Graziella um. »Wenn Petra uns im Stich lässt, stelle ich sie
auf ein Laufrad und lasse sie so lange darin rennen, bis sie die Hälfte ihres Gewichts verloren hat.«
Graziella lachte ebenfalls, denn was sie von Petra hatte sehen können, deutete auf einen recht stattlichen Umfang hin.
»Petra ist ein Genie, aber es nimmt sie keiner ernst, weil sie wie ein fetter, tapsiger Bär aussieht. Ich gebe zu, sie ist ein wenig verschroben, aber ich vertraue ihr mehr als jedem anderen. « Torsten wusste nicht, ob er sich nur selbst Mut zusprechen wollte. In seinen Augen besaß Petra zu wenige Informationen, um ihnen wirklich helfen zu können. Da ihm aber nichts anderes übrig blieb, als auf ihre Unterstützung zu hoffen, musste er warten. Er öffnete die Tür, trat auf den Flur und suchte den Aufenthaltsraum.
»Sie können wieder in Ihr Büro, Frau Meier.«
»Ich heiße Meindl!«
»Entschuldigung! Aber Sie können trotzdem wieder hinein. Vorher könnten Sie uns aber noch zeigen, wo sich hier die Gästezimmer befinden. Wir hätten auch nichts gegen ein ausgiebiges Bad und ein Mittagessen.«
»Ein Stockwerk weiter oben ist ein Zimmer für unerwartete Gäste. Dusche und WC sind gleich nebenan. Was das Essen betrifft, so werde ich dem Portier Bescheid geben. Er wird sich darum kümmern.« Frau Meindl stand auf und ging zur Tür, drehte sich dort aber noch einmal um.
»Sie sollten mir Ihre Konfektionsgrößen sagen, denn so, wie Sie jetzt aussehen, können Sie wirklich nirgendwo hin.« Damit verschwand sie und ließ Torsten und Graziella allein zurück.
Torsten schenkte sich einen Kaffee ein und wollte gerade einen ersten Schluck trinken, da erinnerte er sich daran, dass er die beiden Berettas in Frau Meindls Zimmer gelassen hatte, und eilte schnell hin, um sie zu holen.
V. TEIL
DER ANSCHLAG
EINS
O berst Renzo schnippte eine Staubfluse von seiner nagelneuen Uniform und trat zu seinen Kameraden. Die jungen Burschen, die noch vor einer Woche eine Art Abenteuerurlaub in den Abruzzen verbracht hatten, waren ebenfalls frisch eingekleidet worden. Die meisten warfen der kleinen blauweißschwarzen Flagge am Oberarm, die sich deutlich von den italienischen Farben oder dem Emblem der faschistischen Garde unterschied, einen nervösen Blick zu.
»Sieht eigenartig aus, nicht wahr?«, meinte einer der Männer.
»Was heißt hier eigenartig? Wir haben den Befehl, uns als estnische Einheit zu tarnen, also tun wir das auch.« Selten hatte Renzo den Unterschied zwischen sich und seinen Rekruten so deutlich wahrgenommen wie jetzt. In gewisser Weise waren die anderen Milchbubis, von denen noch keiner in einem ernsthaften Gefecht gestanden hatte. Er hingegen hatte in seiner aktiven Zeit an mehreren Auslandsmissionen der italienischen Streitkräfte teilgenommen und sein Leben mehr als einmal mit der Waffe in der Hand verteidigen müssen. Dann aber zuckte er mit den Schultern. Seine Jungs würden schon bald genauso hart werden wie er selbst. Immerhin hatte er bei ihrer Ausbildung alles getan, um sie so weit zu bringen.
Renzo nickte noch einmal, um diesen Gedanken zu bekräftigen, und winkte einen jungen Albaner zu sich, der neben der eigenen Sprache und italienischen Grundkenntnissen auch Griechisch und Serbisch beherrschte. Der Bursche hieß Flamur und war so etwas wie der Anführer der
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