Tamir Triad 01 - Der verwunschene Zwilling
Sie legte ihm die andere Hand auf die Stirn und sprach in seinem Geist wie an jenem Tag im Sumpf. Kein fester Gegenstand, der in ein sehendes Fenster gelangt, kommt je wieder heraus, weder auf der anderen Seite – noch sonst irgendwo. Alles, was in ein solches Fenster dringt, wird verschluckt.
»Bring es mir bei«, forderte er sie auf.
Lhel löste kopfschüttelnd die Hände von ihm. »Noch nicht. Andere Dinge wichtiger. Du noch nicht genug weißt.«
Arkoniel kauerte sich auf die Fersen zurück und schluckte seine Enttäuschung hinunter. Es war nicht die Magie, die er erhofft hatte, dennoch eine, die ihn seinem Ziel näher bringen würde als alles andere, was er kannte. Er würde sich in Geduld üben. »Was muss ich denn wissen?«
Von irgendwo zwischen ihren Röcken holte Lhel eine Knochennadel hervor. Sie hob sie hoch, damit er sie sehen konnte, dann stach sie sich damit in den Daumen und drückte einen schillernd roten Tropfen heraus. »Zuerst du lernen die Macht von das und von Fleisch und Knochen und die Toten.«
»Totenbeschwörung?« Hatte ihn eine einzige körperliche Vereinigung so geblendet, dass er die dunkleren Wurzeln ihrer Magie vergessen hatte?
Lhel musterte ihn mit unergründlichen, schwarzen Augen, und wieder wirkte sie uralt und mächtig. »Dieses Wort ich kenne. Dein Volk uns das heißen, wenn es uns von Land vertreibt, das sein unser. Ihr falsch.«
»Aber es ist Blutmagie!«
»Ja, aber nicht böse . Totenbeschwörung sein …« Sie kramte nach dem rechten Wort. »Viel schlimmes, schmutzige Sache.«
»Eine Abscheulichkeit«, half Arkoniel ihr.
»Ja, Abscheulichkeit. Aber nicht das.« Sie drückte einen weiteren Tropfen hervor und verschmierte ihn auf ihrer Handfläche. »Du hast Blut, Fleisch. Ich haben. Alle Menschen. Nicht böse. Macht . Böse kommen von Herz, nicht von Blut.«
Arkoniel starrte auf ihre Handfläche und beobachtete, wie der dünne Fleck in den Linien darauf trocknete. Was sie gesagt hatte, widersprach allem, was ihm als Bürger Skalas im Haus seines Vaters und danach als Zauberer je beigebracht worden war. Und dennoch, während er neben dieser Frau saß und die Aura der Macht fühlte, die sie umgab, spürte er nichts Böses in ihr. Er dachte an Tobin und den Dämon und daran, was Lhel auf sich genommen hatte, um zu retten, was zu retten war. Widerwillig und furchtsam hörte er auf sein Herz und vermutete, dass sie die Wahrheit sagte.
Hätte er die Gabe der Zukunftssicht besessen, hätte er gesehen, dass sich der Lauf der Geschichte Skalas und der Orëska in jenem Augenblick widerstrebender Erkenntnis kaum merklich verschob.
K APITEL 30
Arkoniel fand sich in diesem Winter in einer Doppelrolle als Lehrer und Schüler wieder. Jeden Vormittag unterwies er seine zurückhaltenden jungen Schutzbefohlenen, danach suchte er Lhel für seinen eigenen Unterricht auf.
Bei ersterem Unterfangen erwies sich Tharin als starker Verbündeter, denn er weigerte sich, mit den Waffenübungen zu beginnen, bis sich beide Jungen annehmbar Mühe bei Arkoniel gaben. Dieses Gefüge stieß anfangs auf Widerstand, doch als Tobin endlich das Alphabet meisterte und ein wenig lesen konnte, entwickelte er plötzlich Geschmack am Lernen. Seine Begeisterung steigerte sich, als Arkoniel anbot, ihm das Zeichnen beizubringen. Soweit Arkoniel es beurteilen konnte, war dies die einzige Fähigkeit, die er besaß, mit der er Tobin zu beeindrucken vermochte.
Ki zappelte und seufzte während des Unterrichts immer noch häufig, aber auch bei ihm stellte Arkoniel Verbesserungen fest, wenngleich ihm bewusst war, dass er nicht sich selbst dafür zu beglückwünschen brauchte. Für Ki ging die Sonne mit Tobin auf und unter, und er hätte sich bei allem bemüht, was sein Gefährte wertschätzte. Wenn der junge Prinz beschloss, sich einer Sache zu widmen, stürzte sich Ki mit bedingungslosem Willen auf dasselbe.
Niemand konnte bestreiten, dass er umgekehrt selbst die gewünschte Wirkung auf Tobin hatte. Der Prinz lachte mittlerweile wesentlich mehr, und die täglichen Streifzüge in die Gebirgslandschaft brachten Farbe auf seine Wangen und drahtige Muskeln auf seine langen Knochen.
Alle paar Wochen trafen Botenreiter mit Briefen von Rhius ein, in denen er von der wachsenden Rastlosigkeit jenseits des Meeres berichtete.
In den plenimarischen Werften herrscht zu viel Betrieb, um sich wohl zu fühlen, schrieb er in einem Brief, und die Spitzel des Königs melden eine große Anzahl von Plenimarern, die sich
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